8 10. Zusammensetzung der zweiten Ständekammer. 23
Die Regeln über das Wahlrecht haben sehr geschwankt. 1. Die Verfassung stellte für die
Urwahlberechtigung gar keinen Zensus auf, war also insoweit noch liberaler als das jetzige Gesetz;
dafür war das passive Wahlrecht weit enger begrenzt: Wahlmänner konnten nur die 60 Hoöchst-
besteuerten der Wahlgemeinde werden, Abgeordnete (für die jetzt garkein Zensus besteht) nur Per-
sonen, die 100 Gulden direkte Steuern zahlten oder 1000 Gulden staatlichen Gehalt bezogen oder
20 000 Gulden in hessischen (!) Staatspapieren besaßen. 2. 1849— 1850 fielen diese Schranken: es
galt allgemeines gleiches Wahlrecht. 3. Die Nothverordnung von 1850 führte das Dreiklassen-
Wahlsystem nach preußischem Muster ein, d. h. sie machte das Wahlrecht zwar allgemein, aber höchst
ungleich. 4. Das Gesetz von 1856 verlangte von den Urwählern Zahlung irgend einer Personal-
steuer, von den Wahlmännern ein Normalsteuerkapital von 118 Gulden, von den Abgeordneten ein
Normalsteuerkapital von 550 Gulden oder eine jährliche Einnahme von 1000 Gulden aus hessischem
Gehalt oder hessischen Staatspapieren.
Das Wahlrecht ist — von der kurzen Zwischenherrschaft des Wahlgesetzes von 1849 abgesehen
— erst seit 1872 ein gleiches. Denn nach der Verfassung hatte der grundbesitzende Adel das Recht,
sechs Vertreter zu wählen, während auf die Bürger 44 Abgeordnete kommen; die gleiche Regel hatte
auch das Wahlgesetz von 1856.
III. Haupt= und Nachwahlent). 1. Die Hauptwahlen.
a) Sie sind nur ausnahmsweise Totalwahlen, welche die ganze Kammer betreffen,
nämlich nur in den Fällen, wo die vorhergehende Ständeversammlung aufgelöst worden ist.
b) Regelmäßig sind sie dagegen Theilwahlen, d. h. sie betreffen nur die halbe
Kammer. Alle drei Jahr scheidet nämlich die Hälfte der Abgeordneten aus und wird
durch neue Wahlen ersetzt. Das erste Mal nach einer Auflösung der Ständeversammlung,
also nach einer vollständigen Erneuerung der ganzen zweiten Kammer wird die drei-
jährige Frist („Wahlperiode") von dem Tage ab zu rechnen sein, auf welchen die neu-
gewählte Kammer einberufen ist, weil mit diesem Tage die neugewählten Abgeordneten
in ihre Rechtsstellung als Ständemitglieder eintreten. Die das erste Mal ausscheidende
Hälfte wird durch das Loos derart bestimmt, daß von den Abgeordneten jeder Provinz
die Hälfte austritt. Die folgenden Wahlperioden nehmen ihren Beginn mit dem Ablauf
der vorausgehenden Periode, und es scheiden am Ende der Periode diejenigen Mitglieder
aus, welche der Kammer durch zwei Wahlperioden angehört haben.
Die Wahlperiode kann (vom Falle der Auflösung abgesehen) abgekürzt werden,
wenn im dritten Jahre der Periode ein neuer Landtag einberufen werden soll: es können
in diesem Falle die Neuwahlen schon in diesem dritten Jahr anberaumt werden, und
die Hälfte der Abgeordneten scheidet alsdann mit dem Tage aus, an welchem die Neu-
wahl angeordnet wird?).
Dadurch wird der Landtag von der Schwierigkeit bewahrt, daß vielleicht wenig
Wochen nach seiner Eröffnung die Wahlperiode abläuft und ein Wechsel der Kammer-
mitglieder eintreten muß.
2. Nachwahlen finden statt, wenn ein Abgeordneter stirbt, seine Stelle nieder-
legt, von der Kammer ausgeschlossen wird, seine Wählbarkeit verliert, ein besoldetes
Staatsamt annimmt oder im Staatsdienst in ein Amt von höherem Rang oder Gehalt
eintritt. Der zu wählende Ersatzmann behält seine Stelle nicht zwei volle Wahlperioden,
sondern nur solange, als derjenige, zu dessen Ersatz er gewählt ist, die Stelle behalten
haben würde. Bei den Nachwahlen wirken nur die bei der Hauptwahl gewählten Wahl-
männer mit, so daß sich bloß die Abgeordnetenwahl, nicht die Urwahl wiederholt. Selbst
wenn einzelne Wahlmänner durch Tod oder Verlust der Wählbarkeit ausscheiden —
Verzicht und Beförderung im Staatsdienst bewirken den Verlust der Wahlmannsstellen
nicht —, werden Ersatzmänner für sie nicht gewählt, es sei denn, daß die Zahl der
ausgeschiedenen Wahlmänner ¼ der Gesammtzahl oder mehr ausmacht.
1) Wahlgesetz, Art. 47, 48. 2) Ges. v. 5. Mai 1875.