56 Dritter Abschnitt: Gesetz, Verordnung, Verwaltungszwangsverfahren. 832.
2. Eine staatliche Anordnung bedarf der Gesetzesform in zwei Fällen. Einmal
wenn dadurch „eine Beschränkung der Person oder des Eigenthums“ herbeigeführt wird,
welche nicht bereits in älteren Gesetzen für zulässig erklärt ist, wenn also irgend ein
nicht bereits gesetzlich anerkannter Zwang neu eingeführt wird. Zweitens dann, wenn
irgend ein bestehendes Gesetz aufgehoben oder abgeändert werden soll (Verf. Art. 23, 72).
Unter die letzte Gruppe fallen auch die Dispensationen; der Großherzog ist zu
ihrem Erlaß nur dann befugt, wenn ihn das Gesetz dazu besonders ermächtigt; so hat
er z. B. kein Recht zum Nachlaß von Steuern.
3. Es kann streitig sein, ob irgend eine staatliche Anordnung als Gesetz anzusehen ist
und ob sie demgemäß die Kraft besitzt, ältere Gesetze zu ändern oder einen in den älteren
Gesetzen nicht zugelassenen Zwang neu einzuführen. Auf den Namen, den die Anordnung
sich beilegt, kann es natürlich nicht ankommen. Auch daß sie vom Großherzog herrührt,
genügt nicht; denn weder hat der Großherzog das Recht, für sich allein Gesetze zu erlassen,
noch ist er befugt, einseitig festzustellen, daß ein Gesetz rechtmäßig zu Stande gekommen
ist. Deßhalb haben die Gerichte und die übrigen dem Großherzog nicht zu unbedingtem
Gehorsam verpflichteten Behörden diese Frage selbständig zu entscheiden 7.
§ 32. 2. Verordnungen. 1. a) Nothverordnungen.). Sobald es in einem
dringenden Fall zur Sicherheit des Staates nöthig ist, kann der Großherzog jede beliebige
Verordnung mit Gesetzeskraft einseitig, also ohne Mitwirkung des Landtags, erlassen; er
kann in dieser Form sogar bestehende Gesetze ändern und aufheben oder wohlerworbene
Privatrechte vernichten; nur darf die Verordnung nicht gegen die Verfassungs) und nicht
gegen das Reichsrecht verstoßen. Der Großherzog hat dies Recht selbst dann, wenn der
Landtag versammelt ist und der Verordnung ausdrücklich widerspricht"). Doch besteht eine
feste zeitliche Grenze für die Geltung der Nothverordnung: soll die Verordnung nämlich nach
Ablauf eines Jahres noch länger in Kraft bleiben, so ist die Zustimmung des Landtags,
und zwar des nächsten, welcher nach Ablauf jenes Jahres zusammentritt 5), einzuholen;
verweigert auch nur eine Kammer die Zustimmung, so verliert die Verordnung zwar
nicht von selbst ihre Kraft, aber sie ist sofort außer Wirksamkeit zu setzen.
Die Nothverordnungen spielten in Hessen nach 1849 eine große Rolle. So ist durch Noth-
verordnung das Finanzgesetz mehrmals über die Finanzperiode hinaus verlängert, und ein Verbot
aller politischen Vereine erlassen; letzteres Verbot hat, weil damals die erst 1862 eingeführte zeitliche
Begrenzung der Nothverordnungen noch nicht galt, zwölf Jahre lang bestanden. Sogar das 1848
eingeführte allgemeine Wahlrecht ist nach preußischem Muster durch Nothverordnung 1850 abgeschafft,
sehr bedenklich, da die Wahlgesetze als Bestandtheil der Verfassung gelten und deßhalb nach der
oben aufgestellten Regel durch Nothverordnung nicht abgeändert werden können.
b) Von dem Fall der Dringlichkeit abgesehen, kann eine Verordnung nur dann
gültig erlassen werden, wenn sie sich im Rahmen der bestehenden Gesetze bewegt. Und
zwar ist der Großherzog zum Erlaß solcher Verordnungen allgemein befugt, die „zur
Vollstreckung und Handhabung der Gesetze erforderlich sind“ („Ausführungs-
verordnungen. Verf. Art. 73). Verordnungen dagegen, die über diesen Inhalt
hinausgehen, sind nur zulässig, wenn und insoweit ein Gesetz eine besondere Ermächtigung
dazu ertheilt.
1) Wieweit das Nachprüfungsrecht der Gerichte sich erstreckt, kann in dem engen Rahmen
dieser Darstellung nicht untersucht werden.
2) Verf. Art. 73, 110, Abs. 1. Ges. v. 15. Juli 1862. Eine Zusammenstellung aller in
Hessen erlassener Nothverordnungen gibt Beilage, Bd. 2, Nr. 181 der II. Kammer des 17. Landtags.
3) Weil Art. 110, Abs. 1 der Verf. als speziellere Regel dem Art. 73 der Verf. vorgeht.
4) A. M. Zeller 1, S. 26, eine Nothverordnung kann der Großherzog erlassen, „wenn
eine Berufung der Stände wegen dringender Lage unmöglich". Aehnlich Gareis, S. 89.
5) Das kann freilich, da der Landtag nur alle drei Jahre einberufen zu werden braucht,
drei Jahre dauern.