Full text: Die Verfassung des Deutschen Reichs mit Erläuterungen.

270 IV. Präsidium. Art. 11. 
an eine Zentralisierung zugrunde, die weiter gehen sollte, als es durch die 
Verfassung des Norddeutschen Bundes begründet war. Eine Bestätigung 
hierfür ergibt sich aus dem bei Laband ! S. 195 Anm. 2 angezogenen Pro- 
tokoll des Bundesrats von 1870 § 373, wonach „durch die Bezeichnung 
Kaiser und Reich an dem materiellen Inhalt der Verfassung ebensowenig 
wie an den Rechten des Bundesrats und der Einzelstaaten etwas geändert 
worden ist.“ Eine weitere Bestätigung kann aus den Ausführungen des 
Präfidenten des Bundeskanzleramts Delbrück entnommen werden, mit denen 
er die Vorlage des Bundesrats über die Einführung der Bezeichnungen 
„Kaiser" und „Reich“ in der Reichstagssitzung v. 8. Dez. 1870 a. o. Seff. 
St. B. II S. 167 begründete; danach hielt es der Bundesrat des Norddeut- 
deutschen Bundes 
„im Einverständnisse mit den Regierungen der süddeutschen Staaten 
für richtig, die beiden Punkte, auf welche das Schreiben S. M. des Königs 
von Bayern hinzielte, an den beiden Stellen der Verfassung zum Aus- 
druck zu bringen, welche dafür die prägnantesten find (und zwar) 
den Begriff „Deutscher Kaiser“ an der Stelle der Bundesverfassung, welche 
die Präsidialstellung der Krone Preußens bezeichnet."“ 
Der König von Preußen nahm die ihm von den Deutschen Bundes- 
fürsten angebotene Würde bei der Kaiser-Proklamation zu Versailles v. 
18. Jan. 1871 an und erklärte in der dortigen Proklamation: 
„Demgemäß werden Wir und unsere Nachfolger an der Krone Preußen 
fortan den Kaiserlichen Titel in allen Unseren Beziehungen und Angelegen- 
heiten des Deutschen Reichs führen.“ 
Staatsrechtlich handelt es sich, wie in der Proklamation zum Aus- 
druck gebracht ist, allerdings nur um einen Titel, und dieser Titel bedeutet 
nach der juristischen Seite nichts anderes als die in der Norddeutschen 
Bundesverfassung an der entsprechenden Stelle angewandte Bezeichnung 
„Präfidium.“ Verschieden davon ist die politische Bedeutung, welche die 
Kaiser-Idee im deutschen Volke hat. In dem Streben nach der Einigung 
Deutschlands, das seit den Freiheitskriegen das politische Ideal der gebildeten 
deutschen Volkskreise darstellte und den tieferen Grund für die Errichtung 
des deutschen Reichs bildete, spielte gerade das auf historischen Erinnerungen 
idealen Gehalts beruhende Verlangen nach der Wiederaufrichtung des deutschen 
Kaisertums eine hervorragende Rolle und hat vielleicht mehr werbende 
Kraft für die Einigung Deutschlands entfaltet als alle anderen später zu 
Bundeseinrichtungen gewordenen Interessengemeinschaften; man darf an- 
nehmen, daß auch jetzt noch und in Zukunft das Volksbewußtsein dem 
Kaisertitel eine unendlich größere Bedeutung beilegt, als sich aus den 
formalen Begriffen des Staatsrechts ergibt; vgl. die Ausführungen des 
Reichskanzlers Fürst Bülow in der Reichstagssitzung v. 19. Jan. 1903 
St. B. 7410. 
Mit Rücksicht darauf, daß nach den für die Redaktion der Reichsver- 
fassung maßgebend gewesenen Grundsätzen die Bezeichnung „Präsidium“ 
staatsrechtlich dasselbe bedeutet wie die Bezeichnung „Kaiser“ ist es unerheb- 
lich, daß in den Art. 5 Abs. 2, 7 Abs. 2 u. 3, 8 Abs. 2 und Art. 37 die 
Bezeichnung „Präsidium“ beibehalten, während fie im übrigen durch den 
Titel „Kaiser“ ersetzt ist; ebenso Laband 1 S. 194, v. Seydel S. 158, Arndt 
S. 77 ff., vgl. auch v. Rönne I S. 223f.
	        
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