396 V. Reichstag. Art. 20.
Angelegenheiten nicht immer identisch find. Im Gegensatz dazu und in
Verwirklichung des hervorgehobenen Kompromißgedankens muß durch den
Reichstag die Einheit des Volkes, die nationale Idee, die für die Grün-
dung des Reichs eine außerordentlich werbende Kraft entwickelt hat, zum
Ausdruck kommen. Der Reichstag ist, wie Art. 29 es für die einzelnen
Abgeordneten vorschreibt, eine Vertretung des Volkes in seiner Gesamtheit.
Jc) Der Reichstag als Faktor der öffentlichen Meinung.
Gegen die Zusammensetzung des Reichstags ist manches eingewendet
worden. Wie an allen irdischen Einrichtungen hat man auch an dieser
für das nationale und wirtschaftliche, das ideelle und materielle Leben des
Volkes unendlich wichtigen Körperschaft den Stempel menschlicher Un-
vollkommenheit gefunden. Aber das Eine wird sich kaum bestreiten lassen,
daß der Reichstag wie keine andere öffentliche Körperschaft nach seiner
Zusammensetzung, seinem Wahlrecht geeignet ist, die öffentliche Meinung
laut werden zu lassen, mag sie auf richtigen oder falschen Bahnen wandeln.
Der Begriff der öffentlichen Meinung läßt sich exakt nicht feststellen, aber
jedermann kennt sie. Sie setzt sich aus Imponderabilien zusammen, jedoch
ist sie eine höchst reale und staatsrechtlich und politisch sehr beachtenswerte
Macht, weil durch sie die politische Verantwortung der Regierung dem
Lande gegenüber geltend gemacht wird; die politische Verantwortung tragen,
heißt vor der öffentlichen Meinung verantwortlich sein. Es ist deshalb
nicht notwendig nach einer Begriffsbestimmung zu suchen, die stets un-
vollkommen sein würde. Eine richtige Charakterisierung der öffentlichen
Meinung gab in der Sitzung des konst. Reichstags v. 23. März 1867
St. B. 336 der Abg Staatsminister v. Watzdorf, der erklärte, es sei
vollständig falsch, unter den Begriff der öffentlichen Meinung bloß die-
jenigen Auffassungen zu stellen, die da oder dort von einzelnen gebildeten
Klassen getragen würden; nur dann sei eine wirklich öffentliche Meinung
vorhanden, wenn die Überzeugung, die sie ausdrücke, durch alle Schichten
der Bevölkerung hindurchgehe. Gerade nach diesem Maßstab beurteilt,
muß sich der Reichstag als Faktor der öffentlichen Meinung bewähren.
Denn man kann wohl sagen, daß alle Schichten der Bevölkerung im
Reichstag vertreten sind und zum Wort kommen; ob die Vertretung der
einzelnen Schichten freilich zahlenmäßig stets im richtigen Verhältnis zu
ihrer sozialen Bedeutung steht, ist eine andere Frage, die hier außer Be-
tracht bleiben kann.
Es ist schon von großer Wichtigkeit, daß es überhaupt eine Stelle gibt,
an welcher die Fragen, die im politischen Leben des Staates eine Rolle spielen,
unter jedem Gesichtspunkt und unter jedem Parteistandpunkt zur Sprache ge-
bracht werden können und daß die Regierung hier alles, was die bffentliche
Meinung aufregt, hören kann und hören muß. Damit ist nicht gesagt, daß
solche Diskussionen stets für den Ausgleich von politischen Gegensätzen dienlich
sind; im Gegenteil, dies wird sogar in der Regel nicht der Fall sein, weil
es nach der Zusammensetzung des Reichstags kaum anders möglich ist, als
daß bei der Diskussion der Parteistandpunkt sehr scharf betont wird. Aber
der Reichstag stellt ungeachtet dessen in mehr als einer Beziehung ein
Sicherheitsventil dar. Einmal können in der Opposition geistige Bewegungen
von innerem Wert zum Ausdruck kommen, und selbst wenn der innere Wert