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vorhandenen Machtfaktoren und ihren berechtigten Ansprüchen Rechnung zu
tragen, die Krone Preußen das Bundes-Präsidium, die kleineren Staaten
den Bundesrat und die durch die damalige liberale Partei repräsentierte
bffentliche Meinung den Reichstag erhalten habe. Die Schaffung des
Reichstages wurde also als eine Konzession zugunsten der auf dem Stand-
punkt der damaligen großen nationalliberalen Partei beruhenden öffentlichen
Meinung angesehen. Dies mag richtig sein, doch liegt darin kein Gegen-
satz zu der hier als wahrscheinlich vertretenen Ansicht, daß Fürst Bismarck
bei der Einrichtung des Reichstags gleichzeitig an eine Bekämpfung seiner
Konfliktsgegner dachte. Was die öffentliche Meinung damals erforderte
und in dem Reichstage erhielt, war eine konstitutionelle Garantie für eine
starke Mitbeteiligung des Volks an der Leitung des Staatswesens; dazu
genügte eine Volksvertretung mit den denkbar weitreichenden Kompetenzen,
wie sie dem Reichstag — der kein Oberhaus an der Seite hat — zur
Verfügung stehen. Aber eine andere Frage ist es, ob die öffentliche
Meinung dieses radikale Wahlrecht erforderte oder ob Fürst Bismarck dabei
nicht eher im Auge hatte, aus dem Volksleben neue politische Kräfte zur
Entwicklung zu bringen, mit denen er eventuell die politischen Doktrinen,
von denen aus ihm der Konflikt bereitet worden war, im Schach halten
konnte; vgl. Staatssekretär des Innern Graf Posadowsky-Wehner in der
Reichstagssitzung v. 7. Febr. 1906 St. B. 1087.
c) Die Gründe für die Allgemeinheit des Wahlrechts.
Starke politische Motive, die sich aus der Stellung des neuen Reichs
zum Ausland ergaben, lagen bei der Gründung des Reichs vor, das
preußische Wahlsystem nicht zu übernehmen. Es wurde also ein anderes
Wahlrecht konstituiert, und zwar nicht nach irgendeiner Tradition, sondern
ohne jeden Vorgang wurde ein Wahlsystem geschaffen, das zu den radikalsten
der Welt gehört und durch drei Momente charakterisiert wird: Die Gleich-
heit des Wahlrechts, das, ohne an irgendeine Frist des Wohnsitzes geknüpft
zu sein, jedem über 25 Jahre alten Manne zusteht, die direkte Wahl und
die geheime Stimmenabgabe.
Der Radikalismus kommt am meisten in dem ersten Moment zutage,
insbesondere in dem beispiellosen Modus, daß das Wahlrecht nicht nur
ein absolut gleiches, sondern nicht einmal an irgendeine Frist des Wohn-
sitzes geknüpft ist. Fürst Bismarck wies in der Reichstagssitzung v. 28. März
1867 darauf hin, daß das allgemeine Wahlrecht, da es aus der Frank-
furter Reichsverfassung von 1849 stamme, als ein „Erbteil der Entwick-
lung der deutschen Einheitsbestrebungen überkommen sei"“. Dies ist richtig,
aber i. J. 1849 handelte es sich nur um einen Entwurf und es ist dabei nur
an die allgemeine Struktur des Wahlrechts gedacht und nicht an die
besondere Ausgestaltung, die es durch das Wahlgesetz noch im Sinne einer
Steigerung des Radikalismus erfahren hat. Dafür, daß das Wahlrecht des
Reichstags, insbesondere wegen des Mangels einer Fristbestimmung für
neu angefiedelte Personen, ein non plus ultra an Radikalismus und mit
den in den Süddeutschen Staaten eingeführten Wahlsystemen nicht zu ver-
gleichen ist, hat sich namentlich der Staatssekretär des Innern Graf
Posadowsky-Wehner in der Reichstagssitzung v. 7. Febr. 1906 St.B. 1088D
ausgesprochen. Dort (St.B. 1087 B hat der Staatssekretär auch darauf