V. Reichstag. Art. 22. 421
einigen, und zwar unter vollständiger Wahrung aller Formen und Ein-
richtungen, mit denen ihre offiziellen Verhandlungen ausgestattet sind. Aber
eine solche geheime Sitzung ist staatsrechtlich nichts anderes, als eine private
Zusammenkunft, wie sie unter einzelnen Fraktionen oft stattfindet. Charak-
teristisch ist der geheimen Sitzung, daß der Reichstag in ihr nicht beschluß-
fähig ist. Denn wie aus Art. 28 R. V. hervorgeht, kann der Reichstag nur
auf Grund mündlicher Verhandlung Beschlüsse fassen, und für diese Ver-
handlung ist durch Art. 22 Offentlichkeit vorgeschrieben, sodaß aus einer
geheimen Sitzung kein gültiger Beschluß hervorgehen kann; ebenso Laband I
S. 821 und D. Jur. Zeit. 1903 S. 9, Zorn I S. 244, Arndt S. 137, Ols-
hausen, Strafgesetzbuch § 12 A. 5; vgl. auch Entsch, des Reichsgerichts v.
5. Nov. 1886 Strff. Bd. 15 S. 32. Die Bestimmung des Art. 22 ist
sowenig eine lex imperfecta wie die des Art. 28, die ebenfalls nicht aus-
drücklich Konsequenzen für den Fall der Zuwiderhandlung zieht, während
unzweifelhaft Beschlüsse des Reichstags, die entgegen Art. 28 nicht nach
absoluter Stimmenmehrheit gefaßt werden, nichtig find. Bei den Beratungen
über die sogen. lex Heinze hat der Reichstag am 17. März 1900 in geheimer
Sitzung verhandelt, ohne die Zulässigkeit zu erörtern. In dieser Sitzung
ist aber ein pofitiver Beschluß nicht gefaßt worden, sodaß die Frage der
Zulässigkeit für diesen Fall, der in der Praxis des Reichstags vereinzelt
dasteht, ohne praktische Bedeutung ist. Die praktische Bedeutung der Frage
ist überhaupt nicht groß, weil alle Schwierigkeiten beseitigt werden können,
wenn der Reichstag, nachdem er seinem Bedürfnis nach geheimer Aussprache
genügt hat, die Abstimmung öffentlich vornimmt. Dann ist der Form genügt
und durch die Offentlichkeit der Abstimmung können selbst in Angelegen-
heiten, deren Geheimhaltung am Platze ist, kaum irgend welche Interessen
verletzt werden.
B. Die Straflosigkeit wahrheitsgetreuer Herichte.
I. Berichte im Sinne dieser Bestimmung.
In der Bestimmung des Abs. 2 liegt eine Garantie der Offentlichkeit
der Verhandlungen. Die Presse, an die vorzugsweise zu denken ist, wird
für wahrheitstreue Berichte über den Verlauf der Verhandlungen gegen
jede Verantwortung geschützt. Nach dem Wortlaut des Art. 22 erstreckt sich
der Schutz auch auf mündliche Berichte, z. B. solche, die in Vereinen oder
Versammlungen erstattet werden; ebenso Laband 1 S. 321, Olshausen,
Kommentar zum Strafgesetzbuch 8 12 Nr. 3.
Der Begriff des Berichts, nach seinem allgemeinen und dem juristischen
Sprachgebrauch, setzt eine gewisse Objektivität und eine erschöpfende, wenn
auch kursorische Behandlung des Stoffes voraus. Das Reichsgericht (Entsch.
v. 6. Nov. 1888, IV Strff. Bd. 18 S. 207) bezeichnet Berichte im Sinne
des Art. 79 der preuß. Verf.Urk. — dem Art. 22 R.V. entspricht — als
„erzählende Darstellungen eines historischen Vorganges in seinem wesent-
lichen Verlaufe"“; ebenso Oppenhof, Strafgesetzbuch § 12 Nr. 6. Zwei
Momente erfordert also der Tatbestand des Berichts: ein gewisses Maß von
Objektivität und eine gewisse Erschöpfung des Stoffs.
Zur Objektivität des Berichts gehört es, daß ein Bild der Verhandlungen
selbst gegeben wird, nicht die in kritische Form gekleidete subjektive Auffassung