444 V. Reichstag. Art. 24.
fragen ohne Not eine verpflichtende Stellung einzunehmen. Wenn dies in
dem genannten Schreiben hätte geschehen sollen, wäre sicherlich, anstelle des
zweifelhaften Ausdrucks „Wahlperiode“, die klare Bezeichnung „Legislatur-
periode“ gewählt worden. Wenn man berücksichtigt, daß im Sinne des
gegenteiligen Standpunkts für das Reich Neuwahlen vor Ablauf der Legis-
laturperiode zulässig find, so ist es sogar möglich, daß die Reichsverwaltung
bei dem genannten Schreiben unter „Wahlperiode“ einen mit dem der
„Legislaturperiode“ sich nicht deckenden Begriff verstanden hat.
Aus der Praxis des Reichs lassen sich also sichere Anhaltspunkte für
die eine oder andere Ansicht nicht gewinnen. Die preußische Praxis ver-
folgt bestimmt den Weg, die Eröffnung des Landtags als Beginn der
Legislaturperiode zu behandeln. Natürlich ist der Standpunkt der preußischen
Staatsregierung für die Reichsverwaltung nicht formell bindend, aber die
Rechtslage ist in Preußen nicht anders als im Reich und die Voraus-
setzungen für die Lösung find daher genau dieselben.
Die Materialien der Reichsverfassung enthalten über die Einführung
des Art. 24 nichts näheres, weil die Bestimmung aus der preuß. Verf Urk.
ohne weiteres übernommen wurde. Aus den Materialien der preuß. Verf Urk.,
insbesondere aus den Protokollen der von der National-Versammlung ein-
gesetzten Verfassungskommission ergibt sich, wie von Laband in der D. Jur. Zeit.
1902 S. 491 dargelegt ist, ein Hinweis, daß die Bezeichnung „Legislatur-
periode“ gewählt wurde, um zum Ausdruck zu bringen, daß die Mandate
aller Abgeordneten, auch der durch Stich= und Nachwahlen gewählten, zu
dem gleichen Endtermin erlöschen sollten. Folgt man aber dieser Ansicht, so
kann der Begriff der „Legislaturperiode“ im Reich nichts anderes bedeuten
als in Preußen.
Auch der von Müller-Meiningen a. a. O. S. 725 erhobene Einwand,
daß für Preußen die Frage mit Rücksicht auf Art. 76 der Verf. Urk. anders
liege als für das Reich, kann nicht als begründet anerkannt werden; Art. 76
bestimmt, daß der Landtag „regelmäßig“ in der Zeit von Anfang November
bis Mitte Januar „und außerdem, so oft es die Umstände erheischen, ein-
berufen“ werden soll. Die Bindung der Regierung ist danach keine absolute,
sie kann tatsächlich den Landtag einberufen, wenn sie will; es muß nur all-
jährlich wenigstens einmal geschehen, und nicht mehr und nicht weniger ist
durch die Reichsverfassung vorgeschrieben, da die Notwendigkeit der all-
jährlichen Feststellung des Etats in Ansehung des Zeitpunktes der Einberufung
des Reichstags der Regierung im Reiche keinen weiteren Spielraum als in
Preußen gibt.
Von der Praxis Preußens abzugehen besteht kein hinreichender Grund.
Der von v. Rönne a. a. O. erhobene Einwand, daß es von diesem Standpunkt
aus lediglich in der Hand der Regierung liegen würde, den Beginn und
den Ablauf des Mandats der Abgeordneten zu bestimmen, wird von Herr-
furth a. a. O. mit Recht durch den Hinweis darauf widerlegt, daß die
Regierung diesen Zeitpunkt doch bestimmt, da ihr auch die Festsetzung des
Wahltermins obliegt. Im Hinblick auf konstitutionelle Garantien verdient
eher die in Preußen vertretene Auffassung den Vorzug, weil danach das
nach der Verfassung für die gewählten Abgeordneten begründete Recht, fünf
Jahre lang an der Gesetzgebung mitzuwirken, durch Hinausschiebung der
Berufung der Volksvertretung von der Regierung nicht mehr einseitig verkürzt