Full text: Die Verfassung des Deutschen Reichs mit Erläuterungen.

XII. Reichsfinanzen. Art. 69. 633 
Etats die Entrichtung der Zölle und Steuern zu verweigern, noch sind die 
Einzelstaaten berechtigt, aus diesem Grunde die Abführung der Reichs- 
einnahmen an die Reichskasse abzulehnen. 
Was die zweite Kategorie der Reichseinnahmen, die Matrikularbeiträge 
betrifft, so bestimmt Art. 70 allerdings, daß sie in Höhe des „budgetmäßigen 
Betrages“ durch den Reichskanzler ausgeschrieben werden; ein eigentliches 
Einnahmebewilligungsrecht liegt aber auch hierin nicht, wenigstens ist es 
ohne jede konstitutionelle Bedeutung. Von Bedeutung ist nur die Bewilligung 
der Ausgaben; find die Ausgaben bewilligt, so ist es die Aufgabe eines 
einfachen Rechenexempels festzustellen, wieviel das Reich im Hinblick auf den 
nicht zureichenden Betrag der eigenen Einnahmen zur Deckung der Ausgaben 
noch an Matrikularbeiträgen bedarf; denn es wäre widersinnig, wenn das- 
selbe Parlament für denselben Etat die Ausgaben bewilligen wollte, aber 
nicht die erforderlichen Matrikularbeiträge; vgl. die Ausführungen des Abg. 
Miquel in der Sitzung des konst. Reichstags v. 8. April 1867 St. B. 623 
und des Abg. Lasker v. 9. April 1867 StB. 647, ebenso Fürst Bismarck 
in der Reichstagssitzung v. 10. März 1877 St. B. 71 und der Abg. Basser- 
mann in der Reichstagssitzung v. 10. Okt. 1902 St. B. 3257B. Kommt 
der Etat nicht zustande so fehlt allerdings für die Ausschreibung von 
Matrikularbeiträgen die verfassungsmäßige Grundlage; vgl. die Erklärung 
des sächsischen Staatsministers v. Friesen in der Sitzung des konst. Reichstags 
v. 9. April 1867 St. B. 649. Nicht weniger fehlt dann aber auch die Grund- 
lage für die Bestreitung der Ausgaben, denn die Verfassung ist auf diesen 
Fall überhaupt nicht zugeschnitten. 
Nicht zu verwechseln mit dem Einnahmebewilligungsrecht ist die reichs- 
gesetzliche Feststellung von neuen Einnahmen des Reichs; sie ist von größter 
konstitutioneller Bedeutung und erübrigt sich auch nicht für das Reich, 
ungeachtet der theoretischen Möglichkeit, Matrikularbeiträge bis zu un- 
begrenzter Höhe auszuschreiben, weil praktisch im Hinblick auf die Finanz- 
wirtschaft der Einzelstaaten die Erhebung beträchtlicher Matrikularbeiträge 
auf große Schwierigkeiten stößt. Deshalb ist es, wie bereits im konst. Reichs- 
tag (Sitzung v. 23. März 1867 St. B. 329) der Abg. v. Sybel ausführte, 
für die Macht des Reichstags von großem Wert, daß die Finanzwirtschaft 
des Reichs von Hause aus mit einem — durch Matrikularbeiträge zu 
deckenden — Defizit angelegt wurde; vgl. v. Treitschke Deutsche Kämpfe 
S. 204. Denn da die Beitreibung der Matrikularbeiträge, wenn sie eine 
gewisse Höhe erreichen, auf den Widerstand der Regierungen der Einzelstaaten 
stößt, die im Bundesrat ihre Rechte geltend machen können, so ergibt sich 
aus diesem Verhältnis für die Reichsverwaltung die Notwendigkeit, für den 
finanziellen Mehrbedarf des Reichs mit einer gewissen Periodizität neue 
Steuern oder eine Erhöhung der bestehenden Steuern einzuführen und dazu 
bedarf sie der Mitwirkung des Reichstags. Um dieses Verhältnis zu er- 
halten und im Verfolg des Standpunktes, daß nur einer im Defizit befind- 
lichen Regierung gegenüber das Parlament genügend Macht besitze, entschloß 
man sich zu einer künstlichen Beschränkung der eigenen Einnahmen des 
Reichs, als die Zolltarifvorlage von 1879 durch eine bedeutende Erhöhung 
der Zölle das Reichs-Defigit aus der Welt zu schaffen und die Matrikular- 
beiträge überflüssig zu machen versprach. Die sich hieran knüpfende konsti- 
tutionelle Besorgnis führte zur Frankensteinschen Klausel, nach welcher von
	        
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