XII. Reichsfinanzen. Art. 72. 661
II. Die Entlastung.
Dem Bundesrat und Reichstag werden mit einer allgemeinen Über-
sicht über den Reichshaushalt die Bemerkungen und eine Denkschrift des
Rechnungshofes vorgelegt, welche die hauptsächlichen Ergebnisse der von ihm
vorgenommenen Prüfung zusammenfaßt. Die Bemerkungen haben sich auf
alle Punkte zu beziehen, die nach dem geltenden Recht überhaupt der Prüfung
des Rechnungshofes unterliegen; vgl. Laband IV S. 531. Dem Bundes-
rat und Reichstag, die keine Veranlassung haben und sich auch praktisch in
der Unmöglichkeit befinden, die Einzelheiten selbständig zu untersuchen, dienen
diese Bemerkungen als Unterlage für ihre Prüfung.
über die Wirkung der Entlastung des Reichskanzlers durch den Bundes-
rat und Reichstag oder ihrer Versagung enthält die Reichsverfassung eben-
sowenig wie irgend ein anderes Gesetz eine Bestimmung. Dies erklärt sich
dadurch, daß die Entlastung, die der Bundesrat und Reichstag auf Grund
des Art. 72 R.V. erteilen oder versagen kann, eine juristische Bedeutung
überhaupt nicht besitzt, wohl aber eine politische und moralische. Das
politische Gewicht ihrer Versagung entspricht der politischen Bedeutung,
die ein eklatanter Widerspruch zwischen der Reichsverwaltung und den ge-
setzgebenden Faktoren hat. Die politische und moralische Verantwortung
des Reichskanzlers vor der Geschichte und vor der öffentlichen Meinung tritt
dann in vollem Umfange in Kraft; vgl. die Ausführungen des Abg. Gebert
in der Sitzung des konst. Reichstags v. 8. April 1867 St.B. 625 und die
Verhandlungen des ersten ordentlichen Reichstags von 1867 St. B. 299ff.
Die Verantwortlichkeit des Reichskanzlers erstreckt sich auch auf die
Militärverwaltung, soweit es sich um rein finanzielle Fragen handelt, wie
aus Anlaß der auf dem Gebiete der Militärverwaltung erlassenen justifi-
zierenden Kabinettsordres anerkannt worden ist; vgl. Thrän in Hirth's Annalen
1902 S. 507. Dies schließt nicht aus, daß die Kriegsminister als Chefs
der Militärverwaltungen die gegen ihr Refsort gerichteten Erinnerungen im
Reichstage selbst beantworten. Denn der Reichskanzler ist mit der Militär-
verwaltung nur in seiner Eigenschaft als oberster Chef der Reichs-Finanz-
verwaltung verbunden, und auch die gegen die eigenen Verwaltungs-
zweige des Reichs erhobenen Erinnerungen werden in der Regel nicht durch
die Reichs-Finanzverwaltung, sondern durch die einzelnen Ressortchefs oder
deren Vertreter beantwortet; vgl. die Reichstagsverhandlung v. 29. April
1902 St.B. 5147 ff., besonders 5149 A., sowie Art. 63 III S. 603.
Verantwortlich ist der Reichskanzler in Ansehung der Finanzverwal-
tung für die Beobachtung des Etats und aller geltenden Gesetze und Ver-
ordnungen. Die Etats-Erläuterungen sind im Gegensatz zu den dem betreffenden
Titel unmittelbar beigefügten Bestimmungen über Verwendungszweck, Über-
tragbarkeit des Titels usw. nicht formell verpflichtend; denn sie sind bei
der Feststellung des Etats nicht Gegenstand der Beschlußfassung und spielen
keine andere Rolle als bei Gesetzentwürfen die Motive; dasselbe gilt von
den dem Etat bei der Beratung von den Regierungsvertretern mündlich
beigefügten Bemerkungen; ebenso Thrän a. a. O. S. 88.
Civilrechtlich ist dagegen die Versagung der Decharge seitens des
Rechnungshofs von Bedeutung. Sie hat den Regreßanspruch gegen den,
schuldigen Beamten zur Folge, von dem er nur durch eine justifizierende