XII. Reichsfinanzen. Art. 73. 663
1I1. Der Fall eines außerordentlichen Bedürfnisses.
Der Begriff des „außerordentlichen Bedürfnisses“, das nach Art. 73
die Voraussetzung der Anleihe ist, wird von der Reichsverfassung nicht be-
stimmt, auch nicht näher angedeutet. Im Etat wird zwischen dem Ordi-
narium — das in fortdauernde und einmalige Ausgaben zerfällt — und
dem Extraordinarium unterschieden und gewohnheitsmäßig wird das Extra-
ordinarium, soweit ihm nicht kraft besonderer Reichsgesetze gewisse Ein-
nahmen zur Verfügung stehen, durch Anleihen gedeckt. Es entspricht also
der ständigen Praxis des Reichs das Extraordinarium so zu gestalten,
daß es unter den Begriff des außerordentlichen Bedürfnisses fällt. Auch
die Unterscheidung zwischen Ordinarium und Extraordinarium beruht nicht
auf Gesetz, sondern nur auf finanztechnischen Erwägungen, für die Bundes-
rat und Reichstag sich auf gewisse, in der Denkschrift zum Etat für 1901
niedergelegte und i. J. 1907 revidierte Grundsätze geeinigt haben, nach denen
folgende Ausgaben in das Extraordinarium verwiesen werden (vgl. S. 47 ff.
der Denkschrift zum Etat):
1. im Bereiche des Reichsamts des Innern: die Kosten der diesem
Reichsamt übertragenen Wohnungsfürsorge und größere bauliche Anderungen
am Kaiser Wilhelm-Kanal, die über den Begriff der laufenden Unterhaltung
und der durch die regelmäßige Fortentwicklung des Verkehrs bedingten Er-
weiterung hinausgehen;
2. bei der Heeresverwaltung: die Ausgaben für Festungszwecke und
die Kosten für die Vervollständigung des deutschen Eisenbahnnetzes im
Interesse der Landesverteidigung;
3. bei der Marineverwaltung: die Kosten der Weiterentwicklung der
Marine, außerdem von den Ausgaben für Schiffsbauten, die zur Erhaltung
des bestehenden Zustandes erforderlich sind, der 6% vom Schiffsbauwert
der Flotte übersteigende Bedarf; dabei kommen nur Schiffe in Betracht,
welche die Kriegsflagge zu führen berechtigt sind; die Baukosten aller übrigen
Fahrzeuge werden auf den ordentlichen Etat verwiesen; Ausgaben für die
artilleristische, Torpedo= oder Minenarmierung der Schiffe find von der
Übernahme auf die Anleihe ausgeschlossen;
4. bei der Post= und Telegraphenverwaltung: die Ausgaben zur Er-
werbung von Telegraphenkabeln und Herstellung unterseeischer und unter-
irdischer Telegraphenlinien, letztere nur soweit, als andere Telegraphen-
verwaltungen dabei interessiert find oder militärische Interessen mit in
Frage kommen oder Stadtfernsprechdrähte unter die Erde verlegt werden
müssen, ferner die Ausgaben für Fernsprechanlagen, die vorzugsweise der
Zukunft zugute kommen, einen dauernden Wert besitzen und auch eine
ausreichende Verzinsung gewähren, soweit die Ausgaben nach Art und Umfang
über den Rahmen der bloßen, regelmäßig wiederkehrenden Ausgestaltung des
Fernsprechwesens hinausgehen; endlich die Ausgaben für die Wohnungs-
fürsorge im Interesse der minder besoldeten Beamten.
5. bei der Eisenbahnverwaltung: die Ausgaben für Anlagen, die der
Eisenbahn einen für sie noch nicht erschlossenen Verkehr zuführen sollen,
sowie Ausgaben für ungewöhnlich kostspielige Einrichtungen, deren Uber-
nahme auf den ordentlichen Etat das finanzielle Ergebnis der Verwaltung
für mehrere Jahre außergewöhnlich beeinträchtigen würde, endlich die Aus-
gaben für die Wohnungsfürsorge im Interesse der minderbesoldeten Beamten.