Full text: Die Verfassung des Deutschen Reichs mit Erläuterungen.

664 XII. Reichsfinanzen. Art. 73. 
Es ist anzuerkennen, daß durch diese Grundsätze der Begriff des außer- 
ordentlichen Bedürfnisses eng umgrenzt ist und daß, wenn die Grundsätze 
konseguent gewahrt werden, der Weg angebahnt ist, der zur Gesundung der 
finanziellen Verhältnisse des Reichs führen kann. Denn es wird dann 
vermieden, daß die zukünftige Generation mit Ausgaben für Verzinsung und 
Tilgung von Kapitalien belastet wird, für die später ein Gegenwert über- 
haupt nicht mehr vorhanden ist. Natürlich können weniger strenge Grund- 
sätze für die Ausgaben zu solchen Zwecken angewendet werden, die eine 
angemessene, auch die Amortisation innerhalb eines Menschenalters umfassende 
Verzinsung abwerfen; im allgemeinen ist aber daran festzuhalten, daß Aus- 
gaben für Anschaffungen, die in einem Menschenalter aufgebraucht werden, 
die also für die nächste Generation schon wertlos find, von der Generation 
getragen werden müssen, der fie zustatten kommen, sonst lebt das gegen- 
wärtige Geschlecht auf Kosten des zukünftigen; vgl. die Ausführungen des 
Staatssekretärs des Innern Graf v. Posadowsky--Wehner in den Reichstags- 
sitzungen v. 9. Juni 1902 St.B. 55010D und v. 12. Dez. 1905 St.B. 239 B. 
Aus den angeführten Grundsätzen ergibt sich auch, daß es nicht richtig 
wäre, Ausgaben für nicht werbende Zwecke von dem Begriff des außer- 
ordentlichen Bedürfnisses schlechthin auszuschließen. Ob man aber soweit 
gehen kann, in außergewöhnlich schlechten Wirtschaftsjahren das Defizit 
der Einnahmen durch eine sogen. Zuschußanleihe zu ergänzen, ist mindestens 
zweifelhaft. Zuzugeben ist nur, daß die Vorschrift des Art. 73 so unbestimmt 
ist, daß sie auch diese Frage offen läßt. Es handelt sich dabei also um 
eine Frage der Finanzpolitik, wobei nicht zu verkennen ist, daß wenn man 
einem privaten Wirtschaftsbetriebe, der bei jeder ungünstigen Konjunktur 
zu Anleihen seine Zuflucht zu nehmen gezwungen ist, um die laufenden 
Ausgaben zu decken, kein günstiges Prognostikon stellen kann, dieselben 
Bedenken im großen und ganzen auch auf eine solche Finanzpolitik des 
Reichs anzuwenden sein würden. Für die Etatsjahre 1908— 1905 find 
Zuschußanleihen zur Balanzierung des Etats aufgenommen worden; dies 
war also nicht gerade verfassungswidrig, aber es war, wie von der Reichs- 
verwaltung und dem Reichstag übereinstimmend anerkannt wurde, eine vom 
Standpunkte gesunder Finanzpolitik sehr bedenkliche Maßregel, die nur durch 
die eine ausreichende Erhöhung der Matrikurlarbeiträge nicht zulassende 
schlechte Finanzlage der Einzelstaaten entschuldigt werden konnte; vgl. die Aus- 
führungen des Staatssekretärs des Reichsschatzamts Frhr. v. Thielmann in der 
Reichstagssitzung v. 8. Jan. 1902 St. B. 3200 D, der Abg. Graf zu Stolberg- 
Wernigerode, Bachem und Richter in den Reichstagssitzungen v. 8., 9. u. 
21. Jan. 1902 St. B. 3207 A, 3230, 3444 A. Von letzteren beiden sowie von 
den Abg. Bassermann, Speck, Paasche und Gröber (Sitzung v. 10. Jan. 1902 
St. B. 32740D, v. 21. März 1903 St. B. 8827, v. 3. Mai 1904 St. B. 2623 B 
und v. 7. Mai 1904 St. B. 2764B) wurden verfassungsrechtliche Zweifel er- 
hoben, während die Verbündeten Regierungen nur finanztechnische Bedenken 
zugaben; vgl. noch die Erklärungen des Staatssekretärs des Reichsschatzamts 
Frhr. v. Stengel in den Reichstagssitzungen v. 13. Jan. 1902 St.B. 3335 B u. 
v. 3. Mai 1904 St. B. 2617B, sowie die Begründung des Entwurfs der Lex 
Stengel (Anl. der 11. Leg.-Per. Seff. 2 Bd. 2 S.9j40 Nr. 10); Frhr. v. Stengel 
wies mit Recht darauf hin, daß auch schon die Leges Lieber unter gewissen 
Voraussetzungen eine Zuschußanleihe in etwas verhüllter Form vorsahen.
	        
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