II. Reichsgesetzgebung. Art. 2. 63
durch den Richter entzogen ist. Diese Entscheidung bezieht sich auf das Ver-
fassungsrecht der freien Stadt Bremen, ist aber mutatis mutandis auf die
vorliegende Frage anwendbar. Denn da das Reich durch ein verfassungs-
änderndes Reichsgesetz in den durch Art. 78 R.V. gezogenen Grenzen seine
Befugnis zur Gesetzgebung stets erweitern kann, so läuft die Frage, ob ein
Reichsgesetz mit den Kompetenzschranken der Reichsverfassung vereinbar ist, in
der Regel darauf hinaus, ob die für die Verfassungsänderung vorgeschriebene
Form in den Fällen, in denen es notwendig ist, tatsächlich beobachtet worden ist.
Es ist anzunehmen, daß es dem praktischen Bedürfnis genügt, wenn neben
dem Bundesrat, der das größte Interesse an der Wahrung der entsprechen-
den Vorschriften der Reichsverfassung hat, noch der Kaiser die Beobachtung
dieser Vorschriften prüft. Man kann also den vom Reichsgericht in der
genannten Entscheidung gezogenen Schluß, daß der Richter dieses Prüfungs-
recht nicht hat, auch unter praktischen Gesichtspunkten verteidigen. Dazu
kommt, daß die Behörden tatsächlich nicht in der Lage sind, eine derartige
Prüfung wirksam auszuführen. Denn das verfassungändernde Reichsgesetz
braucht als solches nicht bezeichnet zu sein und noch weniger brauchen die
beteiligten Bestimmungen der Reichsverfassung ausdrücklich abgeändert oder
ergänzt zu werden; val. Art. 78 III. Es genügt, daß die für Verfassungs-
änderungen durch Art. 78 gestellte Bedingung erfüllt ist, daß also im Bundes-
rat nicht vierzehn Stimmen oder mehr den Gesetzentwurf abgelehnt haben. Da
aber das Stimmenverhältnis, das sich bei der Abstimmung im Bundesrat
ergibt, geheim bleibt und in der Regel nicht in dem verkündeten Gesetzestext er-
wähnt wird, so entzieht es sich der Kenntnis der Behörden, ob die Formen
der Verfassungsänderung gewahrt sind, und natürlich können die Behörden nicht
anders als vermuten, daß dies der Fall sei. Hiermit stimmt folgende Be-
merkung des Reichsgerichts überein (3. Es. Urt. v. 26. März 1901 Bd. 48 S. 88)2
„Wenn hierin (nämlich in dem Reichsgesetz v. 27. Juni 1871 betr.
Anstellung von Militäranwärtern) auch eine Kompetenzerweiterung des
Reichs zu finden sein sollte, so fehlt es doch, da das Gesetz vom Bundes-
rate und dem Reichstage beschlossen und ordnungsmäßig publiziert ist,
an jedem Anlaß, an dem verfassungsmäßigen Zustandekommen auch
gemäß Art. 78 R.V. zu zweifeln."
Bezüglich der Verwaltungsbehörden der Einzelstaaten ist noch zu berück-
sichtigen, daß sie den Anweisungen ihrer vorgesetzten Behörden, in höchster
Instanz der Regierung des Bundesstaates, dem sie angehören, Folge zu
leisten haben. Die Regierungen der Einzelstaaten müssen allerdings über
das Abstimmungsverhältnis, das sich bei der Beschlußfassung über den
Gesetzentwurf im Bundesrat ergab, und darüber, ob die Vorschriften über
verfassungändernde Reichsgesetze gewahrt sind oder nicht, unterrichtet sein.
Sind diese Vorschriften aber nicht gewahrt worden, so ist es nicht geschehen,
weil der Bundesrat es in seiner Mehrheit, welche die Minderheit bindet,
nicht für erforderlich erachtet hat, und es dürfte praktisch ausgeschlossen
sein, daß dann bezüglich der Gültigkeit eines solchen Gesetzes die Regierung
eines Einzelstaates ihren Behörden gegenüber einen anderen Standpunkt
vertritt, als sie im Bundesrat eingenommen hat oder als im Bundesrat
durch Mehrheitsbeschluß als der richtige festgestellt worden ist; Entsprechendes
gilt für die Verwaltungsbehörden des Reichs; vgl. auch Meyer S. 632 ff.,
wo die umfangreiche Literatur zu dieser Frage angeführt ist.