heranstreten, schon weil ihre Neigung zu Unruhen hierzu nötigte. Um sie im
Zaum zu halten, mußten nicht nur in Ostafrika, wo die Wißmannsche Truppe
nach Übernahme der Verwaltung durch das Reich in eine Kaiserliche umgewan-
delt worden war, sondern auch in den beiden andern großen afrikanischen
Kolonien, Südwestafrika und Kamerun, Schutztruppen gebildet werden. Daneben
sah das Reich sich gleichzeitig in steigendem Maße zu einer fürsorgenden Tätig-
keit für die eingeborene Bevölkerung veranlaßt, da auch sie unter den ungeord-
neten Verhältnissen schwer zu leiden hatte. Namentlich galt es, den Sklaven-
jagden und Stammesfehden ein Ende zu machen sowie den verheerenden Seuchen
entgegenzutreten, die unter den Eingeborenen wüteten. Endlich mußte schon im
Interesse der weißen Bevölkerung wegen der zwischen ihr und den Eingeborenen
sich anbahnenden wirtschaftlichen Beziehungen das Reich immer mehr dazu über-
gehen, die Gerichtsbarkeit der Häuptlinge durch eine solche seiner eigenen Organe
zu ersetzen. Die Entwicklung hat so von selbst dazu geführt, daß dem Begriff
„Schutzgewalt“ heute eine Bedeutung beikommt, die über die ursprünglich beab-
sichtigte hinausgeht. Er umfaßt heute die gesamte Staatsgewalt, die Summe
aller aus der Sonveränität des Reichs folgenden Befugnisse. Dementsprechend
darf auch die Bezeichnung „Schutzgebiete“ nicht mehr wörtlich genommen werden.
Die Schutzgebiete sind im übrigen im Rechtssinne seit jeher wirkliche Kolonien,
nicht etwa, wie aus dem Namen gefolgert werden könnte, Protektorate gewesen.
Souverän war das Reich dort von Anfang an. Die Hoheitsrechte der Gesell-
schaften waren nur abgeleitete, und auch die Schutzverträge beeinträchtigten seine
Sonveränität nicht. Die cingecborenen Stämme waren keine Staaten im völker-
rechtlichen Sinne, so daß den Schutzverträgen keine völkerrechtliche, sondern nur
eine innerstaatsrechtliche Bedeutung zukam. Im übrigen sind diese Verträge
anch zum größten Teil ontweder infolge Zeitablaufs bedeutungslos, wie in
Kamernn, oder, wie in Südwestafrika, durch Aufstände seitens der Eingeborenen
hinfällig geworden. Nur die Rechte einzelner treu gebliebener Stämme auf eigenc
Gerichtsbarkeit und gewisse Abgaben bestehen in dem letzteren Schutzgebiet
noch fort.
q In den Gebieten, welche in den neunziger Jahren hinzuerworben wurden
(Kiantschon, Samoa, Karolinen), hat das Reich von vornherein auf jeden Ver-
such der Bildung öffentlich-rechtlich privilegierter Gesellschaften verzichtet. Sie
sind seit jeher als Kolonien im eigentlichen Sinne behandelt worden, wenn-
gleich auch auf sie die Bezeichnung „Schutzgebiete“ übertragen ist. Als Kolonie
im vollen Rechtssinne hat insbesondere auch Kiautschon zu gelten, obwohl es
dem Reich von China, wie es in dem Vertrage vom 6. März 1898 heißt,
nur „pachtweise, vorläufig auf 99 Jahre überlassen“ worden ist. Tatsächlich
handelt es sich um eine völkerrechtlich wirksame Abtretung, für die nur aus poli-
lischen Rücksichten die Form einer langfristigen Pacht gewählt worden ist. Daß
Deutschland in Kiantschon die volle Sonveränität erworben hat, kann um so
weniger zweifelhaft sein, als China in dem Vertrage ausdrücklich auf alle Hoheits-
rechte verzichtet und sie an Deutschland übertragen hat. «
Im einzelnen erheben sich freilich in Betreff der Rechtsstellung der Schutz—
gebiete zum Mutterlande, namentlich infolge des Umstandes, daß die Reichsoer—
fassung ihrer nicht gedenkt, manche Zweifel. Es fragt sich insbesondere, wie die
Schutzgebiete im Sinne der gesetzlichen Bestimmungen zu behandeln sind, die
zwischen Inland und Ansland einen Unterschied machen, so z. B. bezüglich der
Verfolgung von Straftaten, der Vollstreckung von Urteilen, des Verlustes der
Staatsangehörigkeit, der Besteuerung. Da die Reichsverfassung das „Bundes-
gebiet“ in Artikel 1 genan umgrenzt und die Schutzgebiete weder dort aufgeführt
noch später dem Bundesgebiet hinzugeschlagen worden sind, hat man ihnen
vielfach die Inlandseigenschaft absprechen wollen. Zweifellos widerstrebt es aber