Kolonialpolitik und Weltmachtstellung.
Von Oberleutnant a. D. Dr. Paul Leutwein, Berlin-Wilmersdorf.
Deutschland befindet sch auf dem Wege zur Weltmacht. Die expansive Entwick-
lung seiner Industrie zwingt seinen Handel und den ihm dienenden Verkehr in immer
höherem Maße zu internationaler Entfaltung; die Notwendigkeit der Einfuhr so
vieler Rohprodukte zu Nahrungs= und Veredelungszwecken läßt dagegen das Bedürfnis
nach Eigenbesitz großer Rohproduktionsgebiete immer stärker hervortreten. Die Er-
kenntnis dieser Vorgänge, deren Summe in internationalen Wechselbeziehungen
wir Weltwirtschaft nennen, ist die Hauptaufgabe weltwirtschaftlicher Forschung. In
dem Kapitel „Die wichtigsten Kolonialprodukte und ihre Bedeutung für Mutterland
und Weltmarkt“ hat die weltwirtschaftliche Bedentung unserer kolonialen Rohproduk-
tionsgebiete ihre Würdigung gefunden. Wie in dieser rein weltwirtschaftlichen Arbeit
politische Zielsetzung vermieden werden mußte, so ist nun unsere Aufgabe in rein
politisch vergleichender Darstellung zu suchen. Es soll die Kolonialpolitik der wichtigsten
Nationen geschildert, kritisch beleuchtet und der Nachweis erbracht werden, daß nur
weltwirtschaftliche Unabhängigkeit gewährender Kolonialbesitz Weltmachtstellung gibt.
Z# Die Triebfedern kolonialer Betätigung des einzelnen sind teils wirtschaftlicher,
teils völkischer Natur; der Staat greift wirtschaftlich und nationalpolitisch fördernd
ein und gelangt zur Weltmacht nur, wenn die wirtschaftliche Expansionskraft der
Bevölkerung und seine politische Stärke die nötige Grundlage hierfür bieten.
Wesen und Arten der Kolonien.
Ehe wir die Geschichte der Kolonialpolitik an uns vorüberziehen lassen, ist es
zweckmäßig, uns Wesen und Art der Kolonien zu vergegenwärtigen. Hierbei scheidet
jede Art innerer Kolonisation naturgemäß aus.
Für die äußere Kolonisation hat die neuere Kolonialwissenschaft vielfach versucht,
feststehende Begriffsmerkmale zu finden. Zunächst das der auswärtigen Niederlassung
von Volksteilen. Natürlich kann dieses Merkmal nicht genügen, da sonst die ganze
Völkerwanderung, die Auswanderung, Niederlassung auf Einladung in dem Gebiet
eines anderen Volkes, ständige Stationen in fremden Großstädten, wic z. B. die deutsche
Kolonie in Rom, die japanische Kolonie in Berlin usw. hierher gehören müßten. Man
hat insolgedessen als weitere Merkmale hinzugefügt die Uberlegenheit des sich nieder-
lassenden Volksteiles über die eingeborene Bevölkerung und den politisch rechtlichen
Verband des Niederlassungsgebietes mit dem Mutterland.
Von diesen Forderungen gibt derjenige der Uberlegenheit des sich niederlassenden
Volksteiles zu den größten Meinungsverschiedenheiten und Unklarheiten Veranlassung.
Wer mit Roscher das Schwergewicht auf das überlegene Alter des kolonisierenden
Volkes legt, wird enropäische Kolonien in China ausscheiden und den Vereinigten
Staaten das Recht der Kolonisation ganz absprechen müssen. Der Begriff der höheren
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