*
Arbeitermangel. Am krassesten wirken die Gegensätze natürlich in den Hafenstädten,
und der Reisende, der z. B. von Sansibar oder Mombassa Daressalam besucht, wird
bei oberflächlichem Urteil den Eindruck gewinnen, daß Englands Kolonialpolitik im Ver-
gleiche mit der Deutschlands an Altersschwäche leidet. Dieser Eindruck verschwindet
sofort da, wo Gebiete mit arbeitsamer entwickelterer Bevölkerung unter englischer
Herrschaft stehen oder lebende Staatswesen dem englischen Weltreich angegliedert
worden sind. Stannenswert sind hier die wirtschaftlichen Werte, die mit englischem
Geld und unter englischer Leitung unter organischer Fortentwicklung der vorgefundenen
Verhältnisse geschaffen worden sind. Stannenswert ist auch die politische Geschicklichkeit,
mit der England solche Staatswesen zu gängeln und ihre Bevölkerung in seine diskrete
Leitung einzuleben versteht. Darum, wer z. B. in Lagos oder Sansibar englisches
Unvermögen, rohe Eingeborene in straffe Zucht zu nehmen, gesehen, der vergesse nicht,
Agypten oder Indien zu besuchen, um auch die Großartigkeit englischer Wirtschafts-
politik und ihrer Mittel sowie die Weisheit und Reife seiner Regierungskunst zu bewundern.
Er wird bald erkennen, daß die Schwächen englischer Eingeborenenpolitik gegenüber
seiner wirtschaftlichen Großzügigkeit und den Vorzügen seiner Regierungskunst nicht
allzuviel besagen. Kolonialpolitisch ist England eben doch in der schweren Selbsterziehung
im 19. Jahrhundert allen vorausgeeilt und im großen ganzen immer noch überlegen.
Es muß Napoleon III. als besonderes Verdienst angerechnet werden, daß er sich,
abgesehen von der Deportation, die englischen Erfahrungen möglichst zunutze zu machen
versuchte. Auch die Beibehaltung seiner maßvollen Neigung zum Freihandel wäre,
wenigstens kolonialpolitisch, der Republik von Vorteil gewesen. Leider hat diese aber
im Laufe der Jahrzehnte cin selbstsüchtiges Unternehmertum entwickelt, das die jüngeren
Kolonien in gewissem Grade wieder zum Ausbentungsobjekt für das Mutterland zu
machen verstand. Bezeichnend hierfür ist die Geschichte Französisch-Kongos, das zur
Tummelstätte spek#nlativer, raubbantreibender Konzessionsgesellschaften geworden. Auch
die koloniale Zollpolitik besindet sich auf falschem Wege. Sie schließt einerseits die
Kolonien äugstlich gegen das Ansland ab und züchtet damit einen Treibhanshandel,
andererseits sucht sie in ebenso ungesunder Weise die Entwicklung einer kolonialen.
Industrie zugunsten der heimischen zu unterdrücken. Die französischen Kolonialpolitiker
unter Führung von Leroy Beanlien und Gierault haben bei der Antoritätslosigkeit
der schnell wechselnden republikanischen Regierungen darin kaum Wandel schaffen können.
In letzter Zeit sind allerdings einige Zollermäßigungen gewährt worden und ab
1. Jannar 1914 treten weiterc in Kraft. Es scheint sich also ein Umschwung vorzu-
bereiten. Das Siedelungswesen hat, wenigstens in Algier, wo jetzt neben 4½ Millionen
Eingeborenen und 250 000 anderen Europäern 400 000 Franzosen leben, einige Fort-
schritte gemacht. Zu überseeischer Siedelung wird Frankreich freilich mit seiner auf
39 Millionen stagnierenden Bevölkerung — ihr stehen jetzt 41 Millionen Engländer
und Schotten gegenüber — wenuiger als je fähig sein. Trotzdeim Frankreich die eng-
lischen Erfahrungen zur Verfügung standen, hat es sich seit 1854 (jetzige Deportations-
kolonien Nen-Kaledonien und Guyane) wieder dem System der Verbrecherkolonien
zugewandt und bei gleich schlechten Ergebnissen bis jetzt daran festgehalten.
Man wird sowohl aus der geschichtlichen Darstellung wie dieser kurzen vergleichenden
Betrachtung leicht erkennen, mit wieviel höherem sittlichen Ernst und größerer Einsicht
England die Lehren aus seiner Kolonialgeschichte zu ziehen verstand als Frankreich.
Die Politik der neuesten Kolonialmächte.
Die Politik der nenesten Kolonialmächte kann in den Einzelheiten dem bisherigen
Bild keine neuen Züge beifügen. Je nach Veranlagung und Charakter haben sie sich
die Erfahrungen der älteren Mächte zu eigen zu machen gesucht. Das Vorgehen aller
ist aber von dem starken Völkern eigenen imperialistischen Ansdehnungsdrang bestimmt
worden, der seinem Volkstum in der Welt eine möglichst starke Ansdehnungsmöglichkeit
auf eigenem Grund und Boden zu verschafsen und ebenso einem möglichst großen Teile