726 Sechstes Buch. $ 262.
II. Arbeiterversicherung'.
& 262,
Die deutsche Arbeiterversicherung? bezweckt eine außer-
ordentliche Fürsorge für die arbeitenden Klassen in
Fällen, in denen ihre Erwerbsfähigkeit eine Beeinträchtigung erleidet.
Die Voraussetzung des Anspruchs auf Fürsorge ist der Eintritt eines
Ereignisses oder eines Zustandes, der eine Aufhebung oder Ver-
minderung der Erwerbsfähigkeit zur Folge hat. Als solche Ereig-
nisse oder Zustände gelten Krankheit, Betriebsunfälle, Invalidität,
Alter. Dagegen wird zur Entstehung des Anspruchs auf Fürsorge
nicht erfordert, daß die berechtigten Personen hilfsbedürftig im Sinne
des Armenrechtes sind. Sie können die aus der Arbeiterversicherung
ihnen gebührenden Prästationen auch dann fordern, wenn sie aus-
reichendes eigenes Vermögen besitzen oder wenn leistungsfähige
alimentationspflichtige Verwandte vorhanden sind®.
Die durch die Arbeiterversicherungsgesetze begründete Fürsorge
für die arbeitenden Klassen ist aber nicht in einer vollständig
einheitlichen Form durchgeführt. Neben der Gestaltung, die
im Sinne der Gesetze als die normale erscheint, treten auch ander-
weite Arten der Fürsorge hervor, welche den Charakter außer-
gewöhnlicher und abweichender Einrichtungen besitzen. Es erweist
sich daher als unmöglich, alle zum Zwecke der Arbeiterfürsorge ge-
schaffenen Institutionen von einem einheitlichen Standpunkte
aus zu charakterisieren. Die juristische Konstruktion muß zunächst
die regelmäßige Form der Arbeiterfürsorge in das Auge fassep und
auf Grund dieser ihre rechtliche Natur bestimmen. Die Abweichungen
von der normalen Gestalt sind in ihrer besonderen Eigentümlichkeit
zu würdigen und nach Maßgabe derselben zu beurteilen.
I. Regelmäßig erfolgt die Verwirklichung der Fürsorge in der
Form der Versicherung* Die Gesetze selbst bedienen sich
zur Bezeichnung des Verhältnisses vielfach und zwar gerade an den
grundlegenden Stellen des Ausdruckes Versicherung. Dieser Sprach-
ı Mit Rücksicht auf die bevorstehende Umänderung des
deuischen Arbeiterversicherungsrechts durch eine Reichs-
versicherungsordnung erfolgt eine ausführlichere Darstellung
nach deren Annahme im Nachtrag.
° Aus der umfangreichen Literatur seien nur erwähnt Rosin, Das Recht
der Arbeiterversicherung 1 (1893), 2 (1905); Laß, Arbeiterversicherungsrecht,
Enzyklop. 2, 761. Vgl. Laband, R.St.R.® 8 341,
® Eine Ausnahme besteht. nur hinsichtlich des Anspruchs der Aszendenten
der durch Betriebsunfälle getöteten Arbeiter.
* Die Frage, ob der deutschen Arbeiterfürsorge ein Versicherungsverhältnis
zugrunde liegt, ist bestritten. Die herrschende Ansicht hat sich agegen er-
klärt, darunter namentlich: Rosin, Laband, Rehm, Seydel, Proebst,
Jellinek. — Georg Me yers oben im Text vertretene Ansicht wird nament-
lich von Menzel und Piloty_ geteilt. Vgl die eingehenden Erörterungen
von Rosin, Die Rechtenatur ‘der Arbeiterversicherung. Abh. f. Laband 2,
43 ff. — Vgl. auch die Literaturangaben bei Laband, R.St.R.® 1909 S. 287°.
5 Daß neben dem Ausdruck Versicherung auch andere Ausdrücke,
namentlich „Unterstützung“ und „Fürsorge“ vorkommen (Rosin a. a. O. S. 267),
ist richtig, beweist aber nichts gegen das Bestehen eines Versicherungs-