§ 30 Die Zweite Kammer. 113
Die Wahlen sind allgemeine, d. h. sie sind in ganz Elsaß-Lothringen an dem-
selben Tage vorzunehmen. Eine Ausnahme hiervon gilt nur im Falle der Nach-
wahlen, die dann eintreten müssen, wenn der Gewählte ablehnt, wenn er während der
Legislaturperiode ausscheidet, oder wenn seine Wahl für ungültig erklärt wird.
Die nötig werdenden Ersatzwahlen sind „sofort“, d. h. ohne begründete Ver-
zögerung zu veranlassen (bei Auflösung binnen 90 Tagen) (§ 12 Verfassungsgesetz).
Davon zu unterscheiden ist der Fall der Nachwahl, die dann stattfinden muß,
falls die Wahl keine Mehrheit für einen Kandidaten ergeben hat. Es findet hier keine
sogenannte Stichwahl, sondern eben eine Nachwahl, und zwar am siebenten Tage nach
der Hauptwahl statt. Gewählt ist hierbei derjenige, der die meisten gültigen Stimmen
(relative Mehrheit) erhalten hat (§ 10).
Die Zahl der Abgeordneten ist auf 60 festgesetzt und auf die 23 Kreise des
Landes verteilt. Jeder Abgeordnete wird in einem besonderen Wahlkreis, der ein räumlich
zusammenhängendes Gebiet darstellen muß, gewählt. Die einzelnen Wahlkreise sind
durch die mit Zustimmung des Bundesrats erlassene Kaiserliche Verordnung vom 3. Juli
1911 (R.G.Bl. S. 267)2 in Anlehnung an die bestehende Kantonaleinteilung so be-
stimmt worden, daß die Bevölkerung des Kreises (als Verwaltungsbezirk) möglichst
gleichmäßig auf die einzelnen Wahlkreise zur Verteilung gelangt 3.
I. Die Voraussetzungen der Wahlberechtigung sind männliches
Geschlecht, Vollendung des fünfundzwanzigsten Lebensjahres, Reichsangehörigkeit“ und
ein mindestens dreijähriger Wohnsitz' in Elsaß-Lothringen. Diejenigen Personen, die
in Elsaß Lothringen ein öffentliches Amt“ ausüben oder Religionsdiener oder Lehrer
an öffentlichen Schulen sind, bedürfen nur eines einjährigen Wohnsitzes (§ 2 Abs. 1
Wahlgesetz).
Von der Berechtigung zum Wählen sind ausgeschlossen:
1. Personen, welche entmündigt oder unter vorläufige Vormundschaft gestellt
sind, für die Dauer der Entmündigung oder Vormundschaft?;
2. Personen, über deren Vermögen der Konkurs eröffnet worden ist, während
der Dauer des Konkursverfahrens"“;
3. Personen, welche bei Abschluß der Wählerliste mit den für die beiden letzten
Rechnungsjahre fälligen direkten Staatssteuern oder Gemeindeabgaben trotz rechtzeitiger
Mahnung und, ohne Stundung erhalten zu haben, ganz oder zum Teil im Rück-
stande sind?;
4. Personen, welche wegen eines Verbrechens oder wegen eines Vergehens, das
2 Dieselbe kann nur durch Landesgesetz abgeändert werden. Wahlgesetz § 13 Absf. 2.
2 Nach der Volkszählung v. 1. Dez. 1910 entfallen darchschniüulch etwa 30 000 Einwohner
auf jeden Wahlkreis.
* Maßgeblicher Zeitpunkt für diese Voraussetzungen ist nicht der Tag der Aufstellung der
Wählerlisten, sondern der Tag der Wahl. 9 2 II u. III Wahl.O.
5 Es wird nicht etwa ein dreijähriger Wohnsitz in einer bestimmten Gemeinde verlangt
(Gemeinde-O. § 30 1). Erganzend kommt jedoch hierbei in Betracht, daß das Wahlrecht nur in der
Gemeinde ausgeübt werden darf, in welcher der Wahlberechtigte seit mindestens einem Jahr seinen
Wohnsitz hat.
Der Begriff des Wohnsitzes verlangt den tatsächlichen Besitz einer Wohnung und die, wenn
auch nicht ständige Bewohnung derselben. *r*“
Einerlei, ob Reichs= oder Landesbeamte, einerlei ferner, ob das Amt mit einer tatsächlichen
Amtsgewalt verbunden ist oder nicht. Auch die Beamten öffentlicher Anstalten oder Korporationen
gehören hierher #z. B. Mitglieder der Armenrte)
*' Val § 6 B. G. B. §F 645 f. C P.O. Ob die Entmündigung auf Grund § 104 1 3. 3 (Ge-
schäftsunfähigkeit) oder auf Grund § 114 B.G.B. beschränkte G.) stattfindet, ist in bezug auf das
Wahlrecht unerheblich. Die Pflegschaft gem. § 1910 B.G.B. schließt das Wahlrecht nicht aus.
8 Die für das Gemeindewahlrecht nach der Bestimmung des § 30 III 3. 2 Gem.O. in Frage
kommende Rehabilitation auf Grund des § 12 Ges. v. 13. Nov. 1899 (G.Bl. S. 157) ist für
das Landtagswahlrecht bedeutungs os. ç ç
* Unter den beiden letzten Rechnungsjahren find die beiden letzten dem Rechnungsjahre, in das
der Wahltag fällt, vorhergegangenen zu verstehen (Ausf.Best. Ziff. 7). Eine Ubersicht über die ver-
schiedenen direkten Staatssteuern gibt Heim, S. 147. Gemeindeabgaben find hier nur Abgaben
öffentlich-rechtlichen Charakters, wie Verbrauchsabgaben, Steuern, Schulgeld, nicht dagegen Abgaben
für die Benutzung gewerblicher Betriebe der Gemeinden (z. B. Elektrizitätswerk, Gas= u. Wasserwerk).
Fischbach, clsaß-Lothringen. 8