* 33 Die formelle Ordnung der Landtagsgeschäfte. 129
Regierungsvertreter unterstehen an sich weder der Redeordnung, der Geschäftsordnung noch der Diszi-
plin der Kammern. Indessen dürfen sie einer allgemeinen parlamentarischen Observanz zufolge
nur sprechen, wenn ihnen das Wort erteilt ist. Ein Ordnungsruf an den Regierungsvertreter ist
unzulässig; bei allfalsigen Exzessen verbleibt einzelnen Kammermitgliedern das Recht persönlicher
Kritik und eventuell auch als letztes Mittel die Schließung oder Aussetzung der Situng durch den
Präsidenten, der zweckmäßigerweise hierzu die Zustimmung des Hauses einholen wird.
Die Erteilung des Wortes durch den Präsidenten geschieht nach freiem Ermessen. Die Dauer
der Reden kann der Präsident nicht bestimmen; es ist dies dem Takt des einzelnen Redners über-
lassents; ebensowenig ist ein bestimmter Rednerplatz vorgeschrieben /. Der Präsident leitet die Ab-
stimmung und verkündet insbesondere, daß er eine namentliche Abstimmung vornehmen werde.
Die Kammern beschließen nach absoluter Stimmenmehrheit 15. Zur Gültigkeit der Beschlußfassung
ist in der Ersten Kammer die Anwesenheit von mindestens dreiundzwanzig Mitgliedern, in der
Zweiten Kammer die Anwesenheit der Mehrheit der gesetzlichen Anzahl ihrer Mitglieder (31) er-
forderlich (§ 18). Beschlüsse, die von einem nicht beschlußfähigen Hause gefaßt werden, find nichtig
(Laband I 351 hins. d. Reichstags). Darüber, wie die Beschlußfähigkeit des Hauses festzustellen
ist, enthält weder die Verfassung nach die einzelne Geschäftsordnung Bestimmungen. Es besteht
nur die Vermutung, daß die Kammer beschlußfähig ist. Erst dann, wenn die Beschlußfähigkeit
seitens des Präsidenten oder eines Schriftführers oder auch eines Abgeordneten bezweifelt wird, er-
folgt die förmliche Feststellung, die namentlich auch durch Namensaufruf bewirkt werden kann. Ver-
kündet der Präsident nach vorgenommener Prüfung die Beschlußfähigkeit, so kann dieselbe nicht mehr
angezweifelt werden. Wird dagegen die Beschlußunfähigkeit festgestellt, so kann 17 eine Beratung und
Weiterverhandlung über den betreffenden Gegenstand nicht mehr stattfinden.
Eine Befugnis des Präfidenten, die Geschäftsordnung in Zweifelsfällen auszulegen, wird man
nicht annehmen können!“; es entscheidet in solchen Fällen ein Beschluß der Kammer 12.
Der Präsident ist behufs Ermöglichung einer sachlichen Debatte befugt, den Redner „zur
Sache“ oder „-zur Ordnung" zu rufen. Der Ruf „.zur Sache“ setzt ein Abweichen vom Gegenstand
der Verhandlung, derjenige „zur Ordnung“" einen Verstoß gegen die Sitten ganz allgemein ge-
nommen oder gegen die „parlamentarischen“ Sitten und Bräuche 10 voraus. Die Wortentziehung
kann erst erfolgen, wenn der Redner (Zweite Kammer) dreimal zur Ordnung gerufen worden ist.
19 Die nach englischem Parlamentsbrauch streng beobachtete Regel, daß kein Mitglied zweimal
über denselben Gegenstand reden darf (Redlich, Recht und Technik des engl. Parlaments, 1905),
gilt natürlich auch nicht.
14 Der Präsident soll über den Parteien stehen. Gleichwohl ist es denkbar, wenn auch nicht
wünschenswert, daß er sich gelegentlich an den Debatten beteiligen möchte. Er muß in diesem Falle
den Vorsitz an den Vizepräsidenten abtreten und nimmt bis zur Wiederaufnahme des Präfidiums
die eebe Stellung ein wie jeder andere Abgeordnete. (Vgl. hins. des Reichstags Perels § 42
15 Die absolute Stimmenmehrheit wird nach der Anzahl der abstimmenden Mitglieder be-
rechnet; anwesende Mitglieder, die nicht mitgestimmt haben, bleiben hierbei außer Ansatz, werden
aber mitgeähllt wenn es sich um die Gültigkeit der Beschlußfassung handelt (Heim, S. 94,
Schultze S. 81.) Im Falle der Stimmengleichheit findet kein Stichentscheid des Präsidenten statt.
Der Antrag hat vielmehr als abgelehnt zu gelten.
1% D. h. der gesetzlich zulässigen Höchstzahl.
" #. 1 auch im Reichstag beobachteten Obsewanz (Perels S. 79, Seydel, Komm.
zur R.V., S. 210).
18 Anders Laband, D.J.3z. 1903 S. 6. Aus dem Recht der „Handhabung der Ordnung“
ist eine solche Interpretationsbefugnis jedenfalls nicht zu entnehmen. Z
1 Im Falle der Ubereinstimmung aller Mitglieder ist ein Abweichen von den Vorschriften
der Gelchäftsordnung ulässig. Laband, D.J.3. 1903 S. 6. Z
schaft 9 Nach der *8 zur Zweiten Kammer merkwürdigerweise auch einen Verstoß gegen die Ge-
äftsordnung.
Der Ruf „zur Ordnung“ geschieht unter Namensnennung. Die Möglichkeit, im Falle gröb-
licher Ordnungsstörung ein unbotmäßiges Mitglied von der Sitzung ausgzuschließen (Hausknechts-
paragraph) ist in beiden Geschäftsordnungen nicht vorgesehen. § 68 G.O. (Zweite Kammer) sieht für
einen solchen Fall nur die Möglichkeit vor, daß der Präsident, „wenn in der Kammer störende Unruhe
entsteht“, die Sitzung auf bestimmte Zeit aussetzt oder ganz aufhebt. Zum Zeichen dessen braucht
er nur sein Haupt zu bedecken. De lege ferenda wäre aber anguraten: Ausschluß des unbotmäßigen
Mitglieds von einer oder mehreren Sitzungen, Diaätenentziehung auf bestimmte Zeit. Die „Selbst-
hilfe“ des Parlaments, die dadurch belätigt wird, daß es nämlich das betreffende Mitglied künftig
ignoriert, hat sich bisher nicht als zugkräftig genug erwiesen.
b der Präsident (und nur er!) in Ausübung des Hausrechts und der Disziplin über die
Abgeordneten die gewaltsame Entfernung eines Abgeordneten mit Hilfe der von ihm herbeigerufenen
Polizeigewalt bewirken darf (Falt Borchardt im preuß. Abg. Haus 1912), erscheint im Hinblick auf
§ 105 Str.G. B. sehr fraglich, weil selbst bei Aufnahme einer diesbezüglichen Bestimmung in die
Fischbach, Elsaß-Lothringen. 9