206 Vierter Teil. Die Landesverwaltung. * 53
bestimmt das Gesetz noch die zum Erlaß der Verordnung berechtigte Behörde und die
in Frage kommende Materie.
Innerhalb der delegierten Sphäre ist die Verordnungsgewalt der Behörde keine
schrankenlose; sie darf jedenfalls nicht die Freiheiten der Staatsbürger, wie sie in den
staatlichen Grundgesetzen, insbesondere in der Erklärung der Menschenrechte vom
26. August 1789 bezeichnet sind, nicht verletzen 5. Werden diese Rechte — außer bei
Vorliegen ungewöhnlicher Umstände — verletzt, so liegt eine Machtüberschreitung
(exces de pouvoir) vor, und die Gerichte haben von der Verhängung einer Strafe
abzusehen A#. Wenn Verordnungen eine bestimmte Gültigkeitsdauer nicht vorschreiben
(„bis auf weiteres“), so behalten sie Geltung bis zu ihrer ausdrücklichen Aufhebung.
Auch ohne, daß eine besondere Strafandrohung in ihnen enthalten ist, erhalten Polizei-
verordnungen und Verfügungen ihren strafrechtlichen Schutz durch Art. 471 Z. 15 C. p..
II. Verhältnis der Polizeiverordnung zur Polizeiverfügung.
Unter den weiteren Begriff der Polizeiverordnungen fallen auch Polizeiverfügungen.
Ob die sachlich zuständige Behörde eine allgemeine Verordnung oder eine Einzel-
verfügung erlassen will, hängt von ihrem Ermessen ab; es handelt sich hierbei um eine
Zweckmäßigkeitsfrage, die dem richterlichen Nachprüfungsrecht nicht unterliegt 2. Wie
die Polizeiverordnungen (durch Einrückung in Gesetz= oder Amtsblätter, Anschlag) öffent-
lich bekanntgemacht werden müssen, so müssen auch die Polizeiverfügungen denjenigen
Personen, die durch sie berührt werden, durch Verkündigung, Zustellung oder Zusendung
seitens der mit dem Vollzug betrauten Behörden eröffnet werden. Bloß mündliche Bekannt-
gabe einer polizeilichen Einzelverfügung genügt nicht 10. Und zwar setzt die Polizeiverfügung,
(arrete individuel) ihrem Begriff nach voraus, daß sie den Fall oder die Fälle, auf
welche sie sich bezieht, unzweideutig im einzelnen bezeichnet 11. Eine bedingungslose Er-
laubniserteilung unter Bezugnahme auf Dienstvorschriften für Polizeibeamte ist unzulässig.
III. Träger der Verordnungsgewalt sind 1½: 1. Der Kaiser als die-
jinige Institution, der die Ausübung der Staatsgewalt anvertraut ist. Vergl. hierzu
oben S. 141.
öffentliches Interesse vorliegt, darf fie nicht prüfen. Es gilt also hier das Legalitätsprinzip.
Erlangt die Polizei dagegen Kenntnis eines polizeiwidrigen Zustandes, so hat fie zu erwägen, ob
das Ht Interesse ein Einschreiten verlangt oder nicht (Opportunitätsprinziph. Luboweki,
Pr. Verw. Bl. 1911/12 S. 709.
5 Dieselben haben fortdauernde Geltung. Leoni, Verf.R. S. 89 f.; Leoni-Mandel
S. 105; O. Mayer, * V. R.,, 8 27 Anm. 1. Die durch dieses Gesetz garantierte persoͤnliche
Freiheit, die Unverletzlichkeit der Wohnung und des Eigentums sowie der gewerblichen Freiheit find
jedoch keine schrankenlosen Rechte. Für außergewöhnliche Verhältnisse, Feuers-, Wassers-, Hungers-
und Senchennot, muß sich der einzelne im Interesse der Gesamtheit Einschränkungen gefallen lassen.
rün Nr. 399.
6 Vgl. Leoni-Mandel S. 106 u. die Anm. 2 daselbst. Die Polizei ist z. B. bei Streilig-
keiten zwischen Mietern und Vermietern nicht einzugreifen berechtigt, weil es Sch hierbei nicht um
Abwendung von Gefahren für die öffentliche Ruhe, Sicherheit und Ordnung handelt. (Pr. O.V.G.
E. 4 S. 414.) Der Polizei ist es auch verwehrt, ihre Zwangsgewalt in den Dienst eines anderen
Verwaltungszweiges (z. B. Steuerverwaltung) zu stellen, um diesem die Erreichung eines gewissen
Erfolges & vermitteln.
!7 O. L.G. Colmar v. 5. Juli 1904, Els.-l. Z. 1906 S. 200.
s So Dufour, Droit admin., 1 Nr. 735, 736, u. O. L.G. Colmar v. 5. Juli 1904, Elf.“-I.
Z. 1906 S. 200. And. Ans. Batbie, Droit publ., IV Nr. 296.
» O. L.G. Colmar v. 20. Jan. 1903, Elf.-lI. 3. 1904 S. 162.
10 Nach dem Staatsratsgutachten v. 25. prair. XIII, das nach feststehender Rechtslehre und
Rechtsprechung auch für Polizeiverordnungen der Präfekten (Polizeidirektoren) und Bürgermeister an-
wendbar ist, erhalten diejenigen Polizeiverfügungen (verordnungen), welche nicht in das Gesetz= oder
Amtsblatt eingerückt sind oder darin nur mit ihrer Uberschrift angegeben werden, verbindliche Kraft
erst von dem Tage an, an welchem den Personen, die durch sie berührt werden, durch Verkündigung,
Anschlag, Mitteilung, Zustellung, Zufendung seitens der Vollzugsbehörde Kenntnis von ihnen ge-
geben ist. Els.-I. Z. 1903 (28) S. 602.
11 Z. B. bei Erteilung einer Tanzerlaubnis. O. L.G. Colmar (Str.) v. 20. Jan. 1908, Elf.-l.
Z. 1904 S. 162. Die Mitteilung von Dienstvorschriften enthält keine polizeiliche Verfügung. Ebenso
Leüttr nicht eine mündliche Erlaubniserteilung unter Hinweis auf den früher erteilten Erlaubnis-
ein.
12 Vgl. O. Mayer, Franz. V.R., S. 57: Leoni-Mandel S. 106 und die Note 4 zit.
französischer Schriftsteller.