§ 2 Die Abtretung des Landes und seine staatsrechtliche Vereinigung mit dem Deutschen Reiche. 7
geführt wurde, war auch die Zustimmung des Reichstages zum rechtsgültigen Zustande-
kommen eines Gesetzes erforderlich. Anleihen, die nur das Land bzw. die Landeskasse
belasteten, bedurften dagegen der Zustimmung des Reichstages nicht 16.
Weiterhin sollte nach § 3 Abs. III zit. bis zum Eintritt der Wirksamkeit der
N.V. in E.-L. alljährlich dem Reichstag über die erlassenen Gesetze und allgemeinen
Anordnungen sowie über den Fortgang der Verwaltung Mitteilung gemacht werden.
Die Sanktion der Gesetze stand nicht dem Bundesrat, sondern dem Kaiser
allein zu. Von seinem Willen hing es ab, ob der vom Bundesrat vorgelegte Gesetz-
entwurf zum Gesetz werden sollte. Man hat daher nicht mit Unrecht die Periode von
1871 bis 1373 als die „Diktatur des Kaisers“ bezeichnet. Laband (II5 S. 222)
formuliert den in § 3 zit. enthaltenen Gedanken dahin, daß bis zur Einführung der
R.V. die kaiserliche Verordnung die Form war, in welcher die Gesetzgebung im Reichs-
land ausgeübt wurde; „die kaiserlichen Verordnungen aber waren Provinzialreichs-
gesetze“ 17. Aus dem letzteren Umstand ergibt sich zugleich die materielle Schranke für
die Gesetzgebungskompetenz des Kaisers; da der Kaiser seine Gesetzgebungsbefugnis vom
Reich herleitete, so konnte nicht er, sondern nur ein Reichsgesetz die Zeit bis zur Ein-
führung der R.V. verlängern oder verkürzen.
Die Ausfertigung der Gesetze erfolgte ebenfalls durch den Kaiser unter Gegen-
zeichnung des Reichskanzlers (§ 4 zit.), der dadurch die Verantwortlichkeit dafür über-
nahm, daß das Gesetz auf ordnungsmäßigem Wege zustandegekommen war 5.
Folgerichtig hätte die Verkündung der auf diese Weise zustandegekommenen
Gesetze im Reichsgesetzblatt erfolgen müssen, wie dies für andere Reichsgesetze, welche
für einen Teil des Reiches oder die Kolonien bestimmt sind, tatsächlich immer der Fall
ist. Da aber Art. 2 R.V. nicht eingeführt worden war, erfolgte die Verkündung in
der ersten Zeit noch in der „Straßburger Zeitung“ und in den „Amtlichen Nachrichten“.
Das Gesetz vom 3. Juli 1871 (G.Bl. S. 2) bestimmte jedoch, daß die für E.-L. er-
lassenen Gesetze und kaiserlichen Verordnungen in einem Gesetzblatt zu verkünden
seien, welches den Titel „Gesetzblatt für Elsaß-Lothringen“ erhielt und im Reichs-
kanzleramt herausgegeben wurde.
IV. Die Organisation der inneren Verwaltung. Durch § 4 des
Gesetzes vom 30. Dez. 1871 (R.G. Bl. 1872 S. 49), betr. die Einrichtung der Ver-
waltung wurde als oberste Verwaltungsbehörde in Elsaß-Lothringen der Oberpräsident
mit dem Amtssitz in Straßburg eingesetzt. Derselbe wurde unmittelbar dem Reichs-
kanzler unterstellt, der somit die oberste Spitze der reichsländischen Verwaltung blieb.
Der Oberpräsident war im konstitutiven Sinne nicht verantwortlich, er hatte nicht die
Befugnis zur Vertretung des Reichskanzlers und konnte keine kaiserlichen Anordnungen
16 Vgl. z. B. Gesetz v. 10. Juni 1872 § 20 f. (Ges. Bl. S. 171).
1!7 Die Ansicht Leonis (S. 171), daß die Gesetze, die im Herrschaftsgebiet der Reichsverfassun
als Reichsgesetze galten, auch bei ihrer Einführung in E.-L. Reichsgesetze geworden seien, und daß
die Gesetze, die im Ferrschaftsgebiet der R.V. nicht galten, Landesgesetze seien¾ ist unhaltbar, wie
Rosenberg (Annal. 1899 S. 387 f.) nachgewiesen hat. Aber auch die Nosenbergsche Ansicht
(a. a. O. S 382; vgl. serner Pucheltzs Zeitschr. 6 S. 372 sanonym] und 11 S. 237 Schiber)),
daß nämlich die in der Zeit vom 28. Juni bis 31. Dez. 1873 in E.-L. verkündeten Gesetze „Landes-
gereber seien, geht sehl. Von Landesgesetzen könnte man nur sprechen, wenn eine von der Reichs-
geseßgebungs= verschiedene Landesgesetzgebungsgewalt in jener Epoche vorhanden gewesen wäre, was
tatsächlich nicht der Fall war. (Vgl. Laband II58 S. 223.) Aus dem Unstande, daß die auf
Grund des Gesetzes v. 9. Juni 1871 erlassenen Gesetze nicht revisibel Gene C. P O.) sind, kann nicht
gefolgert werden (so Rosenberg a. a. O. S. 384), daß es keine Reichsgesetze sind. Aus dieser
prozessualen Schlechterstellung. die mit dem territorial beschränkten Geltungsbereich der Gesetze zu-
sammenhängt, dürfen keine Rückschlüsse auf deren staatsrechtliche Eigenschaften gezogen werden.
Die für das übrige Reich im Reichsgesetzblatt publizierten Reichsgesetze erlangten für das
Reichsland hierdurch keine Gesetzeskraft; hierzu war vielmehr noch ein ausdrücklicher Gesetzesbefehl
in den Formen des Gesetzes v. 9. Juni 1871 erforderlich. Die Lütiigteit der betreffenden Gesetze in
E.-L. beruht daher auf besonderen Einf uhr unggeleche n. Vgl. Bruckl 13.
18 Neben dem Weg der Gesetzgebung bestand noch die Möglichkeit des Erlasses von Rechts-
verordnungen, die der Kaiser auf Grund gesetzlicher Ermächtigung erlassen konnte. Eine Zustimmung
des Bundesrats war zu folchen Rechtsordnungen nicht erforderlich, wohl aber die Gegenzeichnung
des Reichskanzlers und die Publikation im Gesetzblatt f. E.-L. Vgl. Leoni S. 165. «