l64 Die Irrenpflege.
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II. Nach dem Gesetz vom 20. Dezember 1911 ist das Hilfskassengesetz auf-
gehoben worden; die Hilfskassen werden künftighin zu den Versicherungsvereinen auf Gegen-
seitigkeit (a. G.) gerechnet und dem Gesetz über die privaten Versicherungsunternehmungen
unterstellt. Von diesen vorhandenen Hilfskassen (V. a. G.) läßt die Reichsversicherungs-
ordnung nur einen kleinen Teil unter erschwerten Bedingungen als „Ersatzkassen“ zuss.
Neue Ersatzkassen können überhaupt nicht mehr zugelassen werden; die lan desrechtlichen
Hilfskassen wurden überhaupt nicht anerkannt, da ein Bedürfnis für ihre Weiterexistenz
von der Regierung nicht anerkannt wurde. Zu den vorerwähnten Bedingungen, an
welche die Existenz der eingeschriebenen Hilfskassen geknüpft ist, gehören: 1. die Vor-
aussetzung, daß sie dauernd über mehr als 1000 Mitglieder verfügen", 2. die Not-
wendigkeit, daß die Kassen ihren Mitgliedern die Regelleistungen der Krankenkassen,
d. h. Krankenwochengeld und Sterbegeld (§ 1.9) gewähren, und zwar nach dem Grund-
lohn, der bei der eigentlichen Pflichtkasse maßgebend ist. (§ 507.)
III. Zu den Einrichtungen der vorbeugenden Armenpflege gehören auch die Leih-
häuser und die Sparkassen, über die an anderer Stelle gehandelr werden wird.
Zweites Kapitel.
§ 64. Die Frreupflege. Die Irrenpflege, die nunmehr den Landarmenver-
bänden obliegt, gehörte von jeher zu den vornehmlichsten Aufgaben der Bezirke, und
zwar ohne Rücksicht auf die Hilfsbedürftigkeit der Irren 1.
I. Die Organisation: Nach dem Gesetze vom 30. Juni 1838 muß jeder
Bezirk eine öffentliche Anstalt besitzen, welche dazu bestimmt ist, Geisteskranke auf-
zunehmen und zu verpflegen. Die Irrenanstalt für das Unterelsaß befindet sich in
Stephansfeld-Hoerdt, die des Oberelsaß in Rufach, und diejenige Lothringens in Stein-
bach. Auch soweit es sich nicht um unvermögende Geisteskranke handelt, kann die
Verwaltung dieser Anstalten dem Landarmenverband übertragen werden; bei der
Rechnungslegung sind alsdann die der Armenpflege zur Last fallenden Kosten von den
übrigen Ausgaben zu scheiden. (§ 21 A.G.) ,
1. Die öffentlichen Irrenanstalten find staatlicher Aufsicht unterstellt; der zuständige
Erste Staatsanwalt hat mindestens einmal in jedem Halbjahre eine unvermutete Re-
vision der Anstalt vorzunehmen und kann hierbei Beschwerden entgegennehmen und
sich Aufklärung verschaffen. (Art. 2, 4.)
Die innere Ordnung der Anstalten wird durch Hausordnungen geregelt, die
der Genehmigung des Ministeriums bedürfen (Art. 7); im übrigen regeln die Organe
des Landarmenverbandes die Dienstanweisungen, Reglements usw. An der Spitze
der Anstalt steht der Direktor, welcher vom Ministerium ernannt wird 2. Er führt
die Verwaltung der Anstalt, verfügt die Aufnahme und Entlassung der Kranken und
ernennt und entläßt das Unterpersonal und die Wärter und führt die Anstaltspolizei s.
Die Arzte und Rechnungsführer werden vom Bezirkspräsidenten ernannt“.
· CVgLauzchVer. v. 18. Mai 1912 (R. G. Bl. S. 309). Es muß ihnen als eingeschriebenen
Hilfskassen vor dem 1. April 1909 eine Bescheinigung nach § 75a R.V G. erteilt worden sein. Alle
übrigen Hilfekassen fallen als Ersatzkassen ohne weiteres aus. Uber Ausnahmen siehe § 503 R.V O.
und Art. .G. —
Die oberste Verwaltungsbehörde kann die Zahl der Mitglieder auf 250 herabsetzen. § 503 II.
[/§.641 1 Die Irrenpflege ist nicht bloß Armenpflege, sondern auch Gesundheitspflege und vor allem
Sicherheitspolizei; deshalb hat der Bezirk auch aus Gründen der öffentlichen Sicherheit Geisteskranke,
welche der öffentlichen Sicherheit gefährlich find, ohne arm zu sein, in die Irrenanstalten zu ver-
ringen.
ç e In der Regel wird die Stellung des Vorstandes und des leitenden Arztes in einer Persou
vereinigt.
* Ord. v. 18. Dez. 1839 Art. 6, 7.
Z Eine Verfügungsgewalt über das Anstaltsgut hat der Direktor nicht, er kann also z. B.
nicht Liegenschaften veräußern oder erwerben, Prozesse führen oder Lieferungsverträge abschließen.
Hierm wäre ein besonderer Auftrag des Bezirkspräsidenten erforderlich. Bloc k, Dict. vo aliéués
Nr. 21, Dezentr. Dekr. v. 13. April 1861 Nr. 24.
* Dekr. v. 25. März 1852 Art. 5 3. 4.
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