10 Erster Teil. Die Entwicklungsgeschichte der reichsländischen Verfassung. 82
Auch für das Reichsland waren also jetzt die Regeln der Reichsgesetzgebung
maßgebend. Durch Art. 8 zit. wurde jedoch ausdrücklich bestimmt, daß auch nach Ein-
führung der R.V. und bis zur anderweiten gesetzlichen Regelung der Kaiser unter
Zustimmung des Bundesrats, während der Reichstag nicht versammelt ist, Ver-
ordnungen mit gesetzlicher Kraft erlassen konnte. Diese Verordnungen (Not-
standsverordnungen) durften aber nichts bestimmen, was der Verfassung oder
den in Elsaß-Lothringen geltenden Reichsgesetzen zuwider ist, und durften sich nicht auf
solche Angelegenheiten beziehen, in welchen nach § 3 II des Vereinigungsgesetzes vom
9. Juni 1871 die Zustimmung des Reichstags erforderlich war. Entsprechend ihrem
nur provisorischen Charakter wurde bestimmt, daß sie dem Reichstag bei seinem nächsten
Zusammentreten zur Genehmigung vorzulegen sind, und daß sie außer Kraft treten, so-
bald die Genehmigung versagt wird.
Eine selbständige Landesgesetzgebung blieb also Elsaß-Lothringen versagt; jedoch
wurde bereits durch einen kaiserlichen Erlaß vom 29. Oktober 1874 (Ges.Bl. S. 37,
auch abgedruckt im R.G. Bl. 1877 S. 492) der Keim zu der späteren Landesgesetz-
gebung gelegt. Durch den erwähnten Erlaß wurde nämlich der Reichskanzler ermächtigt,
die Entwürfe von Gesetzen über solche Angelegenheiten, welche der Reichsgesetzgebung
durch die Verfassung nicht vorbehalten sind, einschließlich des Landeshaushaltsetats,
einem aus Mitgliedern der Bezirkstage zu bildenden Landesausschusse'ss zur gut-
achtlichen Beratung vorzulegen, ehe sie den zuständigen Faktoren der Gesetzgebung zur
Beschlußfassung zugingen. Der Landesausschuß war sonach in dieser Periode nur begut-
achtendes Organ; seine Begutachtung war kein gesetzliches Erfordernis eines Landes-
gesetzes. Schon die Form, in der der Erlaß ergangen war (der Erlaß ist an den Reichs-
kanzler gerichtet und enthält eine Ermächtigung für diesen), beweist, daß an dem Grund-
satz, daß alle Landesgesetze für E.-L. in Form der Reichsgesetze zu ergehen hatten, nichts
geändert war.
VI. Erst dadurch, daß der Erlaß vom 29. Oktober 1874 als Anlage zu dem
Reichsgesetz vom 2. Mai 1877 (R.G. Bl. 491) abgedruckt wurde, wurde er selbst mit
der Kraft eines Reichsgesetzes ausgestattet und somit zur staatsrechtlichen Grundlage
des Landesausschusses als einer Volksvertretung. Der § des zit. Gesetzes erhob den
Landesausschuß zum gesetzgebenden Faktor, indem er bestimmte: „Landesgesetze
für Elsaß-Lothringen, einschließlich des jährlichen Haushaltsetats werden mit Ju-
stimmung des Bundesrats vom Kaiser erlassen, wenn der durch den kaiserlichen Erlaß
vom 29. Oktober 1874 — Anlage A — eingesetzte Landesausschuß demselben zu-
gestimmt hat.“ Damit war die Periode der eigenen Landesgesetzgebung an-
gebrochen.
Nach § 2 zit. blieb jedoch der Erlaß von Landesgesetzen (§ 1) im Wege der
Reichsgesetzgebung vorbehalten, und es wurde ausdrücklich bestimmt, daß die
auf Grund dieses Vorbehalts erlassenen Landesgesetze nur im Wege der Reichsgesetz-
gebung aufgehoben oder abgeändert werden könnten. Es waren nunmehr also zwei
Formen der Gesetzgebung für Elsaß-Lothringen vorhanden; aber schon äußerlich
war der Gesetzgebungsweg nach § 1 dadurch, daß er an die Spitze des Gesetzes gestellt
war, als der regelmäßige gekennzeichnet; der zugunsten des Reichstags gemachte Vor-
behalt sollte nur ausnahmsweise wirksam werden. Die Sanktion der Landesgesetze
erfolgte in dieser Epoche nicht durch den Bundesrat, sondern durch den Kaiser, also
durch ein Reichsorgan; gleichwohl bedeutete es für die staatsrechtliche Entwicklung des
13 Der Landesausschuß setzte sich aus drei Gruppen von Mitgliedern zusammen: aus Ab-
geordneten, die unmittelbar aus den Bezirkstagen, aus solchen, die unmittelbar aus den Gemeinde-
räten der Städte Straßburg, Mülhausen, Metz und Kolmar hervorgingen, und solchen Ab.
geordneten, die von den Landkreisen gewählt wurden. Wegen des Näheren über die Wahl und die
Zusammensetzung des L. val. die jetzt nur noch historische Bedeutung beanspruchenden Ausführungen
bei Leoni S. 60 f., Bruck 1 S. 92 f. Auch die Streitfrage über die juristische Natur des L., ob
er Landesorgan, bloßer Vrovinztallandtag (Loening, Verwaltungsrecht, S. 77 f.; Schulze, D.
Staatsrecht, 1I S. 374: Georg Meyer, D. Staatsrecht, S. 300) oder Reichsorgan war, ist praktisch
gegenstandslos geworden. Richtiger Ansicht nach war er Reichsorgan, ein „vikarierender“ Reichstag
(Laband II4“ S. 225) mit den Rechten und Pflichten einer Volksvertretung. Vgl. S. 13.