Full text: Das öffentliche Recht der Gegenwart. Band XXVI. Das öffentliche Recht des Reichslandes Elsaß-Lothringen. (26)

250 Vierter Teil. Die Landesverwaltung 
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§.65 
  
erziehung noch ein Feld der Betätigung erhalten geblieben. Die hiernach möglichen 
Maßnahmen regelt die Landesgesetzgebung. Die öffentliche Zwangserziehung trägt 
polizeilichen Charakter, sie erstreckt sich daher unter Umständen auch auf Kinder nicht- 
elsaß-lothringischer Staatsangehörigkeit?7. Die Voraussetzungen, unter denen die 
öffentliche Zwangserziehung erfolgen kann, sind: · 
a) die gleichen wie diejenigen, nach welchen die obervormundschaftliche Unter- 
bringung zulässig ist (§ 123 A.G. B. G. B., §§ 1666, 1838 B. G. B.). 
b) Daneben kommen noch in Betracht: a) wenn die Zwangserziehung zur Ver- 
hütung des völligen sittlichen Verderbens des Minderjährigen notwendig und der Vater 
oder, sofern die elterliche Gewalt oder die Sorge für die Person des Kindes nur von 
der Mutter ausgeübt wird, die Mutter mit der Unterbringung einverstanden ist (§ 123 
Ziff. 1)27; 8) wenn der Minderjährige vor Vollendung des zwölften Lebensjahres eine 
strafbare Handlung begangen hat und die Zwangserziehung zur Verhütung weiterer 
sittlicher Verwahrlosung erforderlich ist (§ 123 Ziff. 2). J) Daneben kommt noch der 
im Ausführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuch nicht erwähnte Fall des § 56 
Str. G. B. in Betracht. Danach ist ein Angeschuldigter, welcher zu einer Zeit, 
als er das zwölfte, aber nicht das achtzehnte Lebensjahr vollendet hatte, eine straf- 
bare Handlung begangen hat, freizusprechen, wenn er bei Begehung derselben die zur 
Erkenntnis ihrer Strafbarkeit erforderliche Einsicht nicht besaß. In dem Urteile ist 
zu bestimmen, ob der Angeschuldigte seiner Familie überwiesen oder in eine Erziehungs 
oder Besserungsanstalt gebracht werden soll. . 
Im einzelnen ist hierzu folgendes zu bemerken: Während die obervormund- 
schaftliche Zwangserziehung nur das Erfordernis der Minderjährigkeit als solcher 
aufstellt, soll für die öffentliche Zwangserziehung tunlichst das sechzehnte Lebensjahr 
die obere Grenze bilden; nur in besonderen Fällen sollen ältere Minderjährige 
untergebracht werden. Eine untere Altersgrenze ist indessen weder für die ober- 
vormundschaftliche noch für die öffentliche Zwangserziehung vorgesehen . 
8. Zuständigrkeit und Verfahren. Betreffs der Anordnung und der 
Aufhebung der Zwangserziehung gelten für die privatrechtliche wie für die öffentlich- 
rechtliche Zwangserziehung die gleichen Vorschriften. Zuständig ist in beiden 
Fällen das Vormundschaftsgericht. Betreffs der öffentlichen Zwangserziehung 
bestehen Unterschiede hinsichtlich des Vollzugs der Unterbringung, ferner hinsichtlich 
der der Verwaltungsbehörde nach § 126 Abs. 2 zustehenden selbständigen 
Entlassungsbefugnis und schließlich bezüglich der Mitwirkung der Staats- 
anwaltschaft 30. 
Das Vormundschaftsgericht kann auch ohne Antrag der Staatsanwaltschaft 
von Amts wegen alle zur Einleitung und Durchführung des Zwangserziehungs- 
verfahrens erforderlichen Maßnahmen treffen. Die Anordnung der Zwangserziehung 
erfolgt durch einen Beschluß des Gerichts, in welchem die gesetzlichen Voraussetzungen 
(58 1666, 1838 B.G.B., 123 A.G. B. G. B.) der Zwangserziehung nachgewiesen 
In diesem Falle wird sich allerdings in den meisten Fällen die Ausweisung der Eltern 
empfehlen. Über die Voraussetzungen der öffentlichen Zwangserziehung vgl. O V.G Colmar 
v. 15. u. 20. Dez. 1911, Els.-l. 3. 1912 S. 246, und über das in erster Linie einzuholende Ein- 
verständnis des Vaters O.L.G. Colmar v. 2. Mai 1906, Els.-I. Z. 1906 S. 523; vgl. ferner O. L.G. 
Colmar v. 23. April 1913, Els.-I. Z. 1913 S. 513. " 
*. 123 Z. 1 deckt sich in seinen Voraussetzungen mit § 55 Str.G.B. # 
- YDteAusfübrzmgsverordnunvom10.an.1900§ beteichnt als solche Grenze für die 
Negel das sechste Lebensjahr. rbreksen der Zwangserziehung bei Minderjährigen über 16 Jahre. 
O. V.G. Colmar v. 26. Nov. 1912, Elfs., I. Z. 1913 S. 20. ç 
*° Vgl. § 14 Abs. 2 u. 3 A.G. F. G. Das Vormundschaftsgericht hat vor jeder Entscheidung 
über die Anordnung oder die Aufhebung der Zwangserhiehung ie Staatsanwaltschaft wn hören. 
Ferner ist die Entscheidung in allen Fällen der Staatsanwaltschaft bekanntzumachen, und schließlich 
hat dieselbe das Beschwerderecht. Die Staatsanwaltschaft hat ferner die Anträge der Polizei oder 
dritter Personen, welche die Einleitung des Zwangserziehungsverfahrens betreffen, entgegenzunehmen 
und hat die erforderlichen Ermittelungen zu veranlassen vgl. §§ 1, 2 Ausf. Ver. Uber die Ab- 
Renzung der hinsichtlich der Entlassung eines Zwangszöglings dem Vormundschaftsgericht und der 
erwaltungsbehörde zustehenden Befugnisse vgl. O.L. G. Colmar v. 17.Okt. 1906, Els.-L. Z. 1906 S.646.
	        
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