14 Erster Teil. Die Entwicklungsgeschichte der reichsländischen Verfassung. §* 4
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angelegenheiten nicht in allen Fällen voraussetzen durfte, bildeten ein wichtiges Hindernis
für die innere Entwicklung des Landes und für das Wachsen der „Reichsfreudigkeit“,
Nachteile, die auch durch die Vertretung Elsaß-Lothringens im Bundesrat durch
Kommissare mit bloß beratender, nicht beschließender Stimme nicht im entferntesten
beseitigt werden konnten.
§* 4. Das Verfassungsgesetz vom 31. Mai 19111. Seit 1879 stockte, ab-
gesehen von geringfügigen Anderungen?, die verfassungsrechtliche Entwicklung des
Reichslandes, „obwohl kein Zweifel darüber bestand, daß die Regelung der staats-
rechtlichen Verhältnisse noch nicht zum Abschluß gekommen war“. (Begründung E. 8.)
In den letzten drei Jahren vor der Einführung der Verfassung wurde der Ruf
nach einer staatsrechtlichen Besserstellung des Reichslandes in der Presse und in
politischen Versammlungen immer lauter, und auch im Landesausschuß kam der
dahinzielende Wunsch der Bevölkerung zu lebhaftem Ausdruck. So hatte der Landes-
ausschuß am 28. April 1903 beschlossen, die Regierung zu ersuchen, auf den Erlaß
eines Gesetzes hinzuwirken, durch welches ihm die Stellung eines Landtags eingeräumt,
der Reichstag dagegen aus der elsaß-lothringischen Landesgesetzgebung ausgeschaltet,
und wonach ferner Elsaß-Lothringen im Bundesrat ein Stimmrecht gewährt werden
sollte. Weiterhin nahm der Landesausschuß am 18. Oktober 1904 eine Resolution
dahinlautend an, die Regierung zu ersuchen, auf den Erlaß eines Gesetzes hinzuwirken,
durch das Elsaß-Lothringen zum Bundesstaat erhoben und das Reichstagswahlrecht für
die Landesvertretung eingeführt werde. Auch in den folgenden Jahren hat der Landes-
ausschuß regelmäßig die Verfassungsfrage erörtert, insbesondere am 24. Februar 1910,
wo eine Resolution die Erhebung Elsaß-Lothringens zum Bundesstaat und die Einführung
des Reichstagswahlrechts unter Zugrundelegung des Proportionalwahlverfahrens forderte.
Schon lange bevor der Landesausschuß in dieser Weise ein tätiges Interesse für die
weitere staatsrechtliche Ausgestaltung des Landes bewies, hatte sich auch der Reichstag
mit der elsaß-lothringischen Verfassungsreform befaßt. Am 7. Mai 1897 und am
22. März 1900 wurde im Reichstage aus eigener Initative ein Gesetzentwurf, betreffend
die Einführung des Reichstagswahlrechts für den Landesausschuß, angenommen, dem
indessen in beiden Fällen die Zustimmung des Bundesrats versagt blieb. Am 14. März
1910 entstand im Reichstag eine lebhafte Debatte über die elsaß-lothringische Ver-
fassungsfrage, und am 15. März gl. J. nahm der Reichstag zwei Resolutionen an, die sich
inhaltlich mit den Resolutionen des Landesausschusses vom 24. Februar 1910 deckten *.
Der Macht der öffentlichen Meinung glaubten die verbündeten Regierungen im
Hinblick auf die Gestaltung der politischen Verhältnisse in Elsaß-Lothringen nicht länger
entgegentreten zu sollen. Indem sie „die zuversichtliche Erwartung hegten, daß durch
die Gewährung größerer Selbständigkeit die innere Verschmelzung des Landes mit dem
Reich eine wesentliche Förderung erfahren werde“, beschlossen sie, dem Reichsland eine
Verfassung zu geben, „durch die es in einem mit den Interessen des Reiches verträg-
lichen Umfang die gewünschte staatliche Selbständigkeit erlangte“ (Begr. S. 8). Bereits
am 14. März 1910 hatte der Reichskanzler von Bethmann-Hollweg dem Reichs-
tag die Mitteilung gemacht, daß ein Gesetzentwurf, der die Fortbildung der elsaß-
lothringischen Verfassung zum Gegenstand habe, fertiggestellt sei. Am 13. und 14. Juni
1910 fanden in Straßburg zwischen dem Staatssekrelär des Innern, Staatsminister
§5S 1 In Kraft getreten ist die neue Verfassung mit dem 1. Sept. 1911; K.Ver. v. 21. Aug. 1911,
.G. Bl. S. 885. Entwurf mit Motiven in den Druckf. d. Reichstags 1909·11 Nr. 581; Komm.Ber.
das. Nr. 1032. Verhdlgn. d. Reichstags v. 26. u. 28. Jan., 23. u. 26. Mai 1911 (Sten. Ber.
S. 4157 f., 7035 f.). Vgl. ferner Paß, Das Zustandekommen der elsaß lothr. Versassungsreform
von 1911; diese Schrift behandelt in ausführlicher Form die Materialien des Gesetzes. Schön-
born im Jahrb. des öff. Rechts 1912 S. 222. Rehm, Vorträge der Gehe-Stiftung 1912 H. 1
S. 4. Komm. von A. Schulze, Gebweiler 1911, und Heim, mit Vorwort von W. Kisch,
Straßburg 1911: vor allem die Darstellung bei Laband, Staaterecht. 5. Aufl., II 2.
* 3. B. Gesetz v. 7. Juli 1887 (R.G.Bl. S. 377), durch welches die kaiserliche Verordnungs-
gewalt erweitert wurde, und Gesetz v. 18. Juni 1902 (N.G. Bl. S. 231), durch welches der Diktatur-
paragraph beseitigt wurde. Vgl. hierzu A. Schulze S. 5f.
8 Nesolutionen Preiß u. Gen. u. Grégoire u. Gen., Nr. 343, 344 der Reichstagsdrucksachen.