84 Das Verfassungsgesetz vom 31. Mai 1911. 15
Dr. Delbrück, und der elsaß-lothringischen Landesregierung Konferenzen über die Ver-
fassungsreform statt“. Der Bundesrat befaßte sich im Herbst 1910 mit der An-
gelegenheit und erteilte am 16. Dezember 1910 den Entwürfen eines Gesetzes über die
Verfassung Elsaß-Lothringens und eines Gesetzes über die Wahlen zur zweiten Kammer
des Landtags für Elsaß-Lothringen seine Zustimmung. Der demnächst (am 17. De-
zember 1910) vom Reichskanzler dem Reichstag vorgelegte Entwurf, folgte, wie die
Begründung (S. 8) hervorhebt, der für die ganze bisherige Entwicklung maßgebend
gewesenen Tendenz, „die Ausübung der dem Reiche zustehenden Funktionen mehr und
mehr von den allgemeinen Reichsorganen loszulösen und auf besondere reichsländische
Organe zu übertragen“. Während die Verwaltung des Landes bereits seit dem
Gesetze von 1879 selbständig war, sah der Entwurf nunmehr auch eine Verselbständigung
der Gesetzgebung vor und schuf zu diesem Zweck besondere gesetzgebende Körperschaften,
die „mit allen parlamentarischen Rechten“ ausgestattet sein sollten. Man hatte hierbei,
wie die Begründung angibt, das Vorbild der bundesstaatlichen Parlamente im Auge,
jedoch mit der aus der rechtlichen Natur des Reichslandes sich ergebenden Einschränkung,
daß die Regelung der staatsrechtlichen Beziehungen desselben zum Reich nach wie vor
der Reichsgesetzgebung vorbehalten bleiben sollte (vgl. § 28 des Entw.).
Der Entwurf gab den vielfach geäußerten Wünschen, Elsaß-Lothringen zum
Bundesstaat zu erheben und ihm eine stimmberechtigte Vertretung im Bundesrat zu
geben, keine Folge. In der Begründung (S. 9) heißt es wörtlich: „Die Bestimmungen
über die staatsrechtliche Stellung des Kaisers, des Statthalters und des Staatssekretärs
für Elsaß-Lothringen entsprechen dem bisherigen Recht. Sie sind in den vorliegenden
Entwurf ausgenommen worden, weil ihre Abänderung nur im Wege der Reichsgesetz-
gebung vorgenommen werden sollte (vergl. § 28 des Entw.). Dem Kaiser ist als dem
erblichen Vertreter der Gesamtheit der Bundesstaaten, welchen die Souveränität über
das Reichsland zusteht, die Ausübung der Staatsgewalt durch § 3 Abs. 1 des Ver-
einigungsgesetzes vom 7. Juni 1871 (R.G.Bl. S. 212, G. Bl. f. E.L-. S. 1) über-
tragen worden. Hieran ist festzuhalten.“
Der Reichstag überwies die ihm am 17. Dezember 1910 zugegangenen Entwürfe
(Nr. 581 der Reichstagsdrucksachen) nach einer zweitägigen Diskussion am 26. und
28, Januar 1911 einer Kommission von 28 Mitgliedern, die sich am 30. Januar 1911
konstituierte und am 20. Mai 1911 ihre Tätigkeit abschloß (K. B. 1,55). Die Kommission
war den politischen Bestrebungen der elsaß-lothringischen Bevölkerung durchaus geneigt.
Ihre Verhandlungen drohten aber wiederholt die Vorlage zum Scheitern zu bringen,
weil sie der Regierung als zu weitgehend erschienen. In der Kommission wurde (K. B.
Drucks. Nr. 1032 S. 4) der Antrag gestellt, an Stelle des § 1 der Vorlage folgende
Bestimmungen aufzunehmen:
„§ 1. Elsaß-Lothringen bildet einen selbständigen Bundesstaat des Deutschen Reichs.
Im Bundesrat wird Elsaß-Lothringen durch drei Stimmen vertreten.
§& 2 Abs. 1. An der Spitze des Bundesstaats steht ein Statthalter, der auf
Vorschlag des Bundesrats vom Kaiser unter Gegenzeichnung des Reichskanzlers auf
Lebenszeit ernannt wird und nur durch Bundesratsbeschluß abberufen werden kann.“
Dieser Antrag wurde indessen auf Grund einer Anregung des Staatssekretärs
des Innern, der vorerst die Stellungnahme der verbündeten Regierungen zu dem Vor-
schlage abwarten wollte, Anlaß zu einer Vertagung der Kommissionsberatungen. Am
9. März 1911 trat die Kommission wieder zusammen, nachdem der Bundesrat seine
Verhandlungen abgeschlossen hatte. Der Staatssekretär des Innern erklärte nunmehr
die gefaßten Beschlüsse für unannehmbar. Dagegen seien, so fuhr er fort, die ver-
bündeten Regierungen, um den Wünschen der Mehrheit der Kommission entgegen-
zukommen, bereit, falls die Vorlage in der von der Kommission vorgeschlagenen Form
zur unveränderten Annahme gelange, folgender Regelung zuzustimmen :
4 Der Landesausschuß faßte am 29. Juni 1910 zwei Resolutionen, wonach ihm Gelegenheit
gegeben werden sollte, zu dem Entwurf einer elsaß-lothringischen Verfassungsreform Stellung zu
nehmen. Diese Resolutionen wurden jedoch als unzulässige ingriffe in die Kompetenz des Reichs
zurückgewiesen. (Schulze S. 7.) 5 Schulze, Verf., S. 11.