20 Zweiter Teil. Die Verfasfung Elsaß-Lothringens und die Behördenorganisation. 87
An diese Vereinbarungen knüpft sich eine lebhafte Streitfrage, die naturgemäß im
Laufe der Zeit immer mehr an Bedeutung verloren hat. Der Rechtszustand war
richtiger Ansicht nach“ folgender: Alle Personen, welche in Elsaß-Lothringen geboren
waren, auch wenn sie am 2. März 1871 (dem Tage des Übergangs der Souveränität
auf das Deutsche Reich) nicht dort wohnten, wurden Deutsche, wenn sie nicht vom
Recht der Option Gebrauch machten. Aber auch diejenigen Personen, die in Elsaß-
Lothringen nicht geboren, aber am 2. März 1871 dort wohnhaft waren, wurden bei
Nichtanwendung des Optionsrechts Deutsche, weil nach völkerrechtlichem Grundsatz mit
der Abtretung eines Gebietsteils auch die daselbst wohnhaften Untertanen unter die
Staatsgewalt des erwerbenden Staates fallen 5. Anders die französische Auffassung;
dieselbe stützt sich auf den Wortlaut der Zusatzkonvention, wonach entscheidendes Gewicht
auf die Geburt gelegt wird; danach wären diejenigen Landesbewohner, welche nicht
im Lande geboren waren, aber am 2. März 1871 daselbst wohnten, Franzosen geblieben,
auch ohne daß sie von der Option Gebrauch machten. Allein die erwähnte Bestimmung
der Zusatzkonvention stellt sich nur als Ausführungsbestimmung zu Art. V der Friedens-
präliminarien dar, auf Grund dessen die Deutsche Regierung die Verpflichtung über-
nommen hat, der ungehinderten Überwanderung der Einwohner der abgetretenen Landes-
teile nichts in den Weg zu legen. Daß dieser entgegenkommenderweise gewährten
Gestaltung gewisse, namentlich zeitliche Grenzen gesteckt waren, muß ohne weiteres
einleuchten, weil sonst eine ordnungsmäßige Verwaltung des Landes bei einer derartig
fluktuierenden Bevölkerung nicht möglich wäre 6.
Eine weitere Streitfrage betraf die Fähigkeit der Minderjährigen, zu optieren.
Nach französischer Auffassung genügte die Zustimmung der gesetzlichen Vertreter allein,
während nach deutscher Auffassung die Gültigkeit der Option Minderjähriger an die
Bedingung geknüpft wurde, daß zugleich der gesetzliche Vertreter optierte 7.
§ 7. Die Staats= bzw. Landesangehörigkeit der Elsaß-Lothringer.
I. Während in den deutschen Einzelstaaten die Reichsangehörigkeit die Staats-
angehörigkeit in einem Bundesstaat voraussetzt, gilt dieser Grundsatz nicht für Elsaß-
Lothringen. Elsaß-Lothringen ist kein Staat, folglich können seine Bewohner auch
keine elsaß-lothringische Staatsangehörigkeit besitzen. Diese Folgerung ist so natürlich,
daß sie keiner besonderen Begründung bedarf. Die Reichsländer sind also eigentlich
unmittelbare Reichsangehörige 1. Nur diejenigen Schriftsteller, welche Elsaß-Lothringen
Staatseigenschaft zuschreiben, betonen auch die Existenz einer besonderen elsaß-lothringischen
Staatsangehörigkeit?. Da der Begriff der Staatsangehörigkeit eine bestimmte Staats-
gewalt voraussetzt, in Elsaß-Lothringen aber eine von der Reichsgewalt verschiedene
Staatsgewalt nicht existiert, so kann es auch keine elsaß-lothringische Staatsangehörigkeit
" Leoni S. 16. * Loening S. 197 und die dort Zitierten.
6 Vgl. über die abweichende Ansicht das Circulaire des französ. Ministers Dufaure vom
30. März 1872 (D.P. 72. 3. 25). Urt. d. französ. Kassationshofs v. 6. März 1877 (D.P. 77. 1. 289).
!* Vgl. Urt. des R.O H G. v. 5. Nov. 1875, 16. April 1876 u. 24. Juni 1876 (Jur. Ztg. 1
S. 9, 345, 387) u. O. L.G. Colmar v. 1. März 1898 eod. 23 S. 355. — Eine Ausnahme wurde
nur bezüglich der emanzipierten Minderjährigen zugelassen, welche nicht in Elsaß-Lothringen geboren
waren, und zwar unter der Bedingung, daß sie ihren Wohnfit nach Frankreich zurückverlegten (ef.
Bekm. d. O. Präf. v. 16. März 1872, Straßb. Ztg. Nr. 80). Optierten Eltern, ohne einen Vor-
behalt zugunsten ihrer minderjährigen Kinder zu machen, so erstreckte sich die Option auch auf diese
(Jur. Ztg. 19 S. 158). Auf Grund des Kaiserl. Erlasses v. 15. Nov. 1880 wurde eine große Anzahl
streitiger Optionsfälle nach vorausgegangener Prüfung durch eine Amitkommission durch Erlaß
des Statthalters in einzelnen Fällen geregelt, jedoch unbeschadet der Befugnis elsaß-lothringischer
Gerichte, über die Gültigkeit einer Option im einzelnen Falle zu entscheiden (Els.-lothr. Jur.3. 19
S. 158; Leoni S. 16 Anm. 2).
([IJ7) 1 So auch H.Hesse, Gibt es eine unmittelbare Reichsangehörigkeit: Jena 1906. Auch die
Novelle zum Staatsangehörigkeitsgesetz von 1918 spricht von einer unmittelbaren Reichsangehörigkeit
logl. & 33 zit.), ohne jedoch die Elsaß-Lothringer ausdrücklich als solche unmittelbaren Reichs-
angehörigen zu bezeichnen.
# * So vor allem Leoni (S. 17), mit dem besonderen Hinweis darauf, daß das Gesetz über
die Reichs= und Staatsangehörigkeit v. 9. Juni 1871 durch Ginffcbe, v. 8. Jun. 1878 einen Staat
voraussetzt; ferner Seydel in der Z. f. d. gesamte Staatswiss. 1872 S. 249 und Rosenberg,
Staatsrechtl. Stellung, S. 8.