56 Zweiter Teil. Die Verfassung Elsaß Lothringens und die Behördenorganisation. 14
ob die Zuständigkeit des Oberpräsidenten unmittelbar auf Gesetz 20 oder auf einer
Delegation seitens des Reichskanzlers? beruht. Begründet wird diese Ansicht damit,
daß jedenfalls durch das Reichsgesetz vom 4. Juli 1879 (§ 3) auch der seinerzeit vom
Reichskanzler delegierte Teil der Befugnisse des Oberpräsidenten dauernd der Kompetenz
des Ministeriums zugewiesen worden sei, da nach dieser Vorschrift das Ministerium
zur Wahrnehmung „der“, d. h. „aller" von dem Oberpräsidenten „bisher geübten
Obliegenheiten“ berufen worden sei. Indessen ist diese Interpretation verfehlt: Durch
der Übergang der Befugnisse des Oberpräsidenten, insbesondere der ihm vom Reichs-
kanzler delegierten, sollte an dem bisherigen Rechtszustand nichts geändert werden.
Das Ministerium sollte die Rechte, die bisher dem Oberpräsidenten zugestanden hatten,
in derselben Fassung und in demselben Zustande erhalten, wie sie der bisherige Träger
besessen hatte. Diese Auffassung der Rechtslage hält vor allen Dingen die Einheitlich-
keit der obersten Verwaltung (in der Person des Statthalters) aufrecht und entspricht
auch dem Zweck und dem Sinn des § 2 V.G.; sie hindert natürlich nicht, daß aus praktischen
Erwägungen die Geschäftsverteilung zwischen dem Statthalter und dem Ministerium so
geregelt wird, daß dieses tatsächlich sozusagen die gesamte Geschäftsführung in Händen
hat und der Statthalter nur die Aufsicht führt Dienstlich ist das Ministerium dem
Statthalter sowieso untergeordnet, und in Fragen von größerer Tragweite findet eine
Beratung des Staatssekretärs und der Unterstaatssekretäre unter dem Vorsitz des Statt-
halters statt (Ministerkonferenz).
VI. Damit wäre die Darstellung des verfassungsmäßigen Beamtenapparates zum
Abschluß gelangt. Die nächste Aufgabe wird darin bestehen, auf der Grundlage der
bisherigen Ergebnisse zur Beantwortung der Frage nach der rechtlichen Natur des
Reichslandes zu gelangen.
Oritter Abschnitt.
§ 14. Die staatsrechtliche Natur des Reichslandes. I. Die Beantwortung
der Frage nach der staatsrechtlichen Natur des Reichslandes ist im wesentlichen gleich-
bedeutend mit derjenigen nach den Begriffserfordernissen des modernen Staates überhaupt.
Im folgenden kann naturgemäß mit Rücksicht auf den engen Rahmen dieser Darstellung
nur ein lberblick über die einschlägigen Fragen gegeben werden. Aus historischen
Gründen empfiehlt es sich ferner, bei Anwendung der allgemeinen staatsrechtlichen
Erundsätze die Zeit vor und nach dem Verfassungsgesetz vom 31. Mai 1911 zu unter-
scheiden.
Jellinek bezeichnet in seiner Abhandlung über Staatsfragmente folgende
Elemente als wesentliche Voraussetzungen des Staatsbegriffs: das eigene Territorium,
die eigenen Angehörigen und die eigene Herrschergewalt (nicht zu verwechseln mit der
Souveränität). Das letztgenannte Erfordernis, die eigene Staatsgewal,e, bezeichnet
er, und darin schließt er sich Labands an, als das wichtigste Merkmal; vermöge
dieser Gewalt schafft sich der Staat selbst den Inhalt der Verfassung, d. h. er setzt
die obersten Organe der Staatsgewalt ein, weist ihnen ihre Funktionen zu und bestimmt
die ihnen nachgeordneten Behörden. Die selbständige Herrschergewalt muß also auf
eigenen, nicht auf fremden Gesetzen beruhen, was allerdings nicht ausschließt, daß der
Verfassung eines Staates durch eine höhere Gewalt gewisse Schranken gezogen sind:
erforderlich ist nur, wie Jellinek hervorhebt, daß für die Zukunft jede Verfassungs-
änderung ausschließlich als Willensakt dieses Gemeinwesens anzusehen ist, und daß die
Verfassung von ihm ohne jede weitere Ermächtigung abgeändert werden kann. Zu
einem ganz ähnlichen Ergebnis gelangt Rosenbergs, wenn er sagt: „Die Staaten
besitzen esigen Personalhoheit, sie haben eine selbständige Herrschaft über die in ihrem Ge-
*2539% 88 5, 61, 9, 15, 21 Ges. v. 36. Dez. 1871.
FII Ges. v. 30. Dez- 1871; vgl. Verf. v. 29. Jan. 1872 (G. Bl. f. E.-L. S. 122).
(P14. 1 1666 . 266; derselbe, Allgemeine Staatslehre, 2. A., 1905 S. 415.
. Bd. II S. 12. 2 Zeitschr. f. d. gef. Staatswissenschaft 1909 (Bd. 65) S. 1 f.