Full text: Das öffentliche Recht der Gegenwart. Band XXVI. Das öffentliche Recht des Reichslandes Elsaß-Lothringen. (26)

814 Die staatsrechtliche Natur des Reichslandes. 57 
  
biete befindlichen Personen. Diese Herrschaft besteht nicht in der Summe einzelner 
und verschiedener getrennter oder geteilter Hoheitsrechte, der Militär-, Finanz-, 
Polizei-, Gerichts-, Kirchen= und Eisenbahnhoheit ", sondern in einem einzigen ungeteilten 
und unteilbaren Hoheitsrecht, nämlich in dem Rechte, Befehle zu erteilen und deren 
Befolgung zu erzwingen. Herrschaft ist also identisch mit Befehls= und Zwangsgewalt.“ 
Nur da, wo eine nicht weiter ableitbare Herrschergewalt aus eigener Macht und zu 
eigenem Recht besteht, wo mit anderen Worten die Fähigkeit zur Selbstorganisation 
besteht 5, kann man von einem eigentlichen Staat, einer selbständigen Gebietskörperschaft 
sprechen. Dadurch unterscheidet sich auch der Staat wesentlich von Kommunen und 
anderen Korporationen des öffentlichen Rechts, daß nur er allein die Herrschafts= und 
insbesondere die Gesetzgebungsgewalt aus eigenem Recht besitzt, während die 
Kommunen usw. Rechtssätze nur insoweit mit verbindlicher Kraft anordnen können, als 
der Staat ihnen diese Befugnis delegiert und ihre Anordnung unter seinen Schutz 
nimmt'. Laband und die beiden anderen vorerwähnten Schriftsteller kommen nun 
auf Grund obiger Deduktionen zu dem zwingenden Schlusse, daß Elsaß-Lothringen 
jedenfalls kein Staat im Rechtssinne ist; bezüglich der Frage, was Elsatz-Lothringen 
überhaupt darstellt, wenn es keinen Staat bildet, darüber gehen die Ansichten erheblich 
auseinandber. 
Im Gegensatz zu der vorstehend wiedergegebenen Auffassung hat eine Reihe von 
Schriftstellern teils früher 8, teils jetzt noch sich auf den Standpunkt gestellt, Elsaß- 
Lothringen sei ein Staat und sei deshalb in staatsrechtlicher Beziehung den deutschen 
Bundesstaaten völlig gleichzustellen. Die einschlägigen Theorien, die sich auf den Zustand 
Elsaß-Lothringens vor Einführung der Verfassung von 1911 bezogen, haben in Theorie 
und Praxis wenig Anklang gefunden und können heute nur noch geringe Bedeutung 
beanspruchen. Am bekanntesten dürfte die Ansicht Leonis? geworden sein, der be- 
hauptet hat, Elsaß-Lothringen sei durch das Gesetz vom 9. Juni 1871 zu einem 
besonderen Staatswesen erhoben worden, zur Sicherung einer deutschnationalen Ent- 
wicklung des Landes seien aber die eigenen Organe des Reiches mit den Regierungs- 
rechten ausgestattet und ferner die konstitutionelle Ausbildung der Landesverfassung der 
Entscheidung des Reichs vorbehalten worden. Die Bildung eines besonderen, und zwar 
monarchischen Staatswesens sei dadurch erfolgt, daß das Reich durch § 3 des Gesetzes 
vom 9. Juni 1871 die Ausübung der Staatsgewalt dem Kaiser übertragen habe. Die 
Unrichtigkeit dieser Theorie ist schon so oft und von so kompetenter Seite 10 dargetan 
worden, daß sich eine nochmalige eingehendere Widerlegung erübrigt. Es sei nur auf 
das eingangs dieses Paragraphen über die wesentlichen Elemente des Staatsbegriffs 
Gesagte und ferner zu allem Uberfluß auf die Worte des Gesetzgebers selbst verwiesen, 
der dem Kaiser nur die „Ausübung der Staatsgewalt“, nicht dagegen die Staatsgewalt 
selber übertragen hat. Die Hoheitsrechte über Elsaß-Lothringen beruhen beim Reich, 
bei der Gesamtheit der verbündeten Fürsten, und damit ist den ganzen Deduktionen 
Leonis 11 der Boden entzogen. 
4 Diese ganze Einteilung in einzelne Hoheitsrechte mutet überhaupt scholastisch an; in Wirklich- 
keit handeltes sich immer nur um die einzige Staatsgewalt und nicht um selbständige Funktionen 
derselben. 
5 Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 361. 
* Rosenberg a. a. O. S. 22. * Laband II S. 12. 
s So z. B. Rosenberg, Die staatsrechtliche Stellung Elsaß-Lothringens, 1896. 
?* In Marquardfens Handbuch II 2 (1883. 19 Laband II4/ S. 261 Anm. 
11 Die gleiche Ansicht wie Leoni vertritt Leoni-Mandel in Margquardsens Handbuch 
II 2, Das Verfassungsrecht E.-L.s; ferner das Werkchen Mandel-Grünewald, Die Verfassung 
und Verwaltung von E.-L. (1905) S. 3 f.; Rehm (in Annal. 1885 S. 71 f.) u. Allg. Staatslehre 
(1899) S. 166: neuerdings hat Rehm seine frühere Ansicht allerdings gewechsent; vgl. Vortrag (Gehe- 
stiftung). Ferner gehören hierher: Mitscher, E.-L. unter deutsch Verwaltg. (1874) S. 13: Croissant 
(anonym), Das Recht der Wiedergewonnenen (1883), S. 76: Rosenberg, Die staatsrechtliche 
Stellung E.-L.s, (1896) S. 37, 42: Becher, Die rechtliche Natur der internationalen Verträge 
E.-L.s, (1897) S. 47, 60. Rehm (Allg. Staatsl. S. 166) macht den etwas wunderlichen Versach 
zwischen der Staatsgewalt im subjektiven und im objektiven Sinne zu unterscheiden. Er 
stellt auf, eine und dieselbe subjektive Staatsgewalt könne mehrere objektive Staatsgewalten in sich
	        
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