817 Die richterlichen Behorden. 71
die ihm als ursprünglichem Träger des ganzen Richteramtes, abgesehen von der Delegation an die
Parlamente, noch geblieben war. Sachen, von denen anzunehmen war, daß sie nicht zur Recht-
sprechung der Parlamente gehörten, brachte der König mittels „évocation“ an sich. Über die so
evogierten Sachen entschieden die Verwaltungsbehörden, und in der Berufung der Staatsrat. Dieses
Evokationsrecht artete bald zu einem Mißbrauch aus, und so erwuchs ein beständiger Kampf
zwischen Gericht und Verwaltung bis zur Revolutionsgesetzgebung, die durch die Zauberformel der
Trennung der Gewalten (séparation des pouvoirs judiciaires et administratifs) Ordnung
schaffte. Auf der Grundlage der als bereits vorhanden angenommenen Zuständigkeitsverteilung
zwischen Justiz und Verwaltung soll der ersteren die Anwendung des Zivil= und Strafrechts auf
die Bürger, der letzteren die Vertretung des kraft seiner Obrigkeit handelnden Staates zufallen.
Zwischen beiden Staatstätigkeiten besteht eine Trennung der Gewalten; keine soll in die Zuständig-
keit der anderen störend eingreifen.
II. Nach der französischen Gerichtsorganisation bestanden als ordentliche Gerichte erster Instanz
für Zivilsachen die aus drei oder mehr Mitgliedern gebildeten tribunaux de premiere instance.
Als außerordentliche Gerichte erster Instanz fungierten die Friedensgerichte (justice de paix) über
Bagatellsachen 2, die Handelsgerichte“ (tribunaux de commerce) über Handelssachen und die Ge-
werbegerichte (conseils de prudhommes) über Streitigkeiten der Gewerbetreibenden und ihrer An-
gestellten.
. Als Strafgerichte erster Instanz waren tätig die Friedensrichter als „tribunanz de police"
für Ubertretungen, die tribunaux de premicère instance als „tribunaux correctionels“ für
Vergehen und die in gewissen Zeitabschnitten zusammentretenden „cour Tassises“ für Verbrechen.
Als Berufungsinstanz der Friedensgerichte (lauch in Polizeistrafsachen) wirkten die tribunaur
de première instance; die Berufung gegen die Urteile dieser letzteren (in Zivil- und Strafsachen)
und der Handelsgerichte ging an die Appellhöfe (cours d’appel). Die Handelsgerichte wiederum
waren Berufungsinstanz für die Gewerbegerichte. Der höchste Gerichtshof war die cour de cassation
in Paris.
Ortlich entfielen auf jeden Kanton ein Friedensgericht, auf jedes Arrondissement ein Tribunal
erster Instanz und gewöhnlich auf zwei Departements ein Appellhof.
Die sogenannte freiwillige Gerichtsbarkeit wurde teils von den Gerichten, teils von Notaren
ausgeübt.
III. Bei der Einrichtung der deutschen Gerichte im Jahre 1871 wurde an dieser Gerichts-
einteilung grundsätzlich nichts geändert5; die aus Zweckmäßigkeitsgründen getroffenen Anderungen
betrafen: an die Stelle der cours T#appel trat für das ganze Land der Appellhof in Colmar; die
11 tribunaux de première instance wurden durch die sechs Landgerichte zu Straßburg, Metz,
Mülhausen, Colmar, Zabern und Saargemünd ersetzt. Die Friedens-, Handels- und Gewerbegerichte
wurden im wesentlichen betbehalten. Als örtliche Zuständigkeit erhielten die Handelsgerichte den
entsprechenden Bezirk der Landgerichte Colmar, Metz, Mülhausen, Saargemünd, Straßburg und
Zabern.
Zur Wahrnehmung der Geschäfte der Staatsanwaltschaft wurde bei dem Appellationsgericht
ein Generalprokurator, bei den Landgerichten Oberprokuratoren mit der erforderlichen Zahl von
Substituten eingesetzt.
IV. Durch die am 1. Oktober 1879 erfolgte Einführung der Reichsjustizgesetze,
die einheitliche Grundlagen für alle deutschen Gerichte geschaffen haben, wurden erheb-
liche Anderungen herbeigeführt. Die Gerichtsgewalt ist grundsätzlich bei den Einzel-
staaten geblieben, sämtliche Gerichte mit Ausnahme des Reichsgerichts und der Militär-
und der Marinegerichte sind Landesgerichte, welche im Namen der Landesstaats-
gewalt, in Elsaß-Lothringen im Namen des Kaisers Recht sprechen.
Die ordentliche streitige Gerichtsbarkeit wird danach in Elsaß-Lothringen durch
Amts-= und Landgerichte, durch das Oberlandesgericht und allenfalls durch das Reichs-
gericht ausgeübt. Als Ersatz für die bisher dem Reichsoberhandelsgericht zustehenden
Befugnisse wurde bestimmt, daß das Oberlandesgericht Kolmar die Entscheidung über
das Rechtsmittel der Kassation (in Zwangsenteignungssachen) haben sollte #. Über die
.
à Zugleich waren die Friedensgerichte in den an den Rhein grenzenden Kantonen Nhein-
schiffahrtsgerichte. * In der Besetzung mit drei Laien.
5 Die Befugnisse des Kassationshofs wurden auf das Reichsoberhandelsgericht übertragen.
Vgl. Gesetz v. 14. Hlt 1871 (G. Bl. S. 165). Ver. v. 14. Juli 1871 (G. Bl. S. 169) und 7. Aug.
1871 (Straßb. Ztg. Nr. 228). *4#
* Die damals dem Reichsgericht übertragene Aussicht und Dilziptin über die Richter (§ 22
A.G. v. 4. Nov. 1878 (G. Bl. S. 65) und § 1 RN.G. v. 16. Juni 1879 (R.G.Bl. S. 159) ist durch