$ 5. Quellen des Verwaltungsrechts. 89
kann sich jeder neue Rechtsatz rückwirkende Kraft beilegen und
bereits vorhandene, abgeschlossene Tatbestände ergreifen. Diese
Wirkung tritt nicht nur ein, wenn sie ausdrücklich angeordnet
ist. Es genügt, daß sie sich als gewollt aus dem ganzen Zu-
sammenhang des neuen Rechtes ergibt. Je bedeutungsvoller
ein Rechtsatz für das Gemeinwohl ist, um so eher ist die An-
nahme gerechtfertigt, sein Urheber habe ihn auch auf bereits
bestehende Verhältnisse zur Anwendung bringen wollen.° Wer-
den z. B. bestimmte bauliche Vorrichtungen als gemeinschädlich
empfunden, so trifft das zu ihrer Abstellung erlassene Gesetz
nicht bloß neu zu errichtende Gebäude, sondern auch die bereits
vorhandenen. Auch wenn ein bestehender Zustand unter der
Herrschaft des alten Rechts durch einen besondern Verwaltungs-
akt begründet oder anerkannt worden ist, so bleibt er dadurch
von einem neuen rückwirkenden Rechtsatze nicht verschont.
Daraus erhellt, daß im Verwaltungsrecht der Rückwirkung ein
viel breiterer Raum gegönnt ist, als im Privatrecht. Immerhin ist
6°o Windscheid-Kipp, Pandekten I $ 32.
61 Baltz, Preuß. Baupolizeirecht, 4. Aufl., 1910, S. 382 und dort zi-
tierte Urteile. Kamptz, Rechtspr. des Preuß. Ober-Verw.-Ger., Erg.-Bd.V
(Genzmer) S.705.— Beispiel: Die Badische Landesbauordng. v.1907 schreibt
vor ($ 5), daß ihre Vorschriften ‚auf Bauten, die im Zeitpunkt der Ein-
führung der neuen Bestimmungen schon bestehen oder vollzugsreif ge-
nehmigt sind, keine Anwendung finden‘. Jedoch sind die Bezirkeämter
befugt, die neuen Bestimmungen auch auf bereits bestehende Bauten an-
zuwenden, ‚wenn die Anwendung der neuen Vorschriften über die Be-
nutzung der Wohn- und Arbeiteräume .... durch die öffentlichen
Interessen der Sicherheit, Gesundheit oder Sittlichkeit geboten ist.“
F. J. Roth, Bad. Landesbauordnung, 2. Aufl., S. 30ff. Württemberg.
Neue Bauordnung vom 28. Juli 1910, Art. 17. Vgl. ferner Reichs-
gewerbeordnung $ 120 d, Abs. 3: „Den bei Erlaß dieses Gesetzes bereits
bestehenden Anlagen gegenüber können, solange nicht eine Erweiterung
oder ein Umbau eintritt, nur Anforderungen gestellt werden, welche zur
Beseitigung erheblicher, das Leben, die Gesundheit oder die Sittlichkeit
der Arbeiter gefährdenden Mißstände erforderlich oder ohne unverhält-
nismäßige Aufwendungen ausführbar erscheinen.‘‘ — In diesen Zu-
saınmenhang hinein gehört auch das Ofenklappenverbot des Berliner
Polizeipräsidiums v. 29. Nov. 1877. Entsch. des preuß. Ob.-Verw.-Ger.
Bd. 8. S. 327. Reichsgericht in Strafe. Bd. 4, S. 144. Baltz, Preuß. Bau-
polizeirecht S. 144. Fleiner, Einzelrecht und öffentl. Interesse S. 32.