$ 12. Anspruch- und pflichtbegründende Staatsakte. 185
Einzelfälle ergehen, wie die Gerichtsurteile.. Es entsteht daher
die Frage, ob ihnen Rechtskraft zukommt, wie den Gerichts-
sprüchen.°° Man hat auch hier zu unterscheiden zwischen einer
formellen und einer materiellen Rechtskraft. Formelle Rechts-
kraft sprechen wir dem Staatsakt zu, der mit einem Rechtsmittel
nicht mehr angefochten werden kann. In diesem Sinn ist die
formelle Rechtskraft auch dem Verwaltungsrecht bekannt.
Regelmäßig schreiben nämlich die Gesetze vor, daß die Verfü-
gung einer Behörde von dem betroffenen Bürger innerhalb einer
bestimmten Frist bei der höheren Verwaltungsinstanz oder beim
Verwaltungsgericht angefochten werden kann. Läßt der Bürger
diese Frist unbenützt verstreichen, so ist ihm der Weg zu
einer höheren Instanz verschlossen; er kann sich der Voll-
ziehung der Verfügung nicht mehr widersetzen. Er muß die
Verfügung gegen sich gelten lassen, solange sie nicht von der
Behörde, die sie erlassen hat, zurückgenommen, oder von einer
höheren Instanz vermöge ihrer Aufsichtsgewalt aufgehoben worden
ist; die Verfügung ist unanfechtbar geworden.?®
35 Otto Mayer I S. 160, 174, 302, und „Zur Lehre von der
materiellen Rechtskraft in Verwaltungssachen‘“ (Archiv für öffentliches
Recht XXI1S.1ff.).. Bernatzik, Rechtsprechung und materielle Rechts-
kraft, 1886. Göz, Verwaltungsrechtspflege in Württemberg 8.5. Laband,
Staatsrecht III? S. 379. Walz, Badisches Staatsrecht S. 232. Spiegel,
Die Verwaltungsrechtswissenschaft, 1909, S. 80—129. Franz Josef Roth,
Bad. Landesbauordnung, 2. Aufl., 1909, S. 288—289. Kormann, Rechts-
geschäftl. Staatsakte 8. 323ff.; Archiv d. öff. R. XXX 253; Jahrb. d. öff.
R. VII 13. Tezner, Das Rechtskraftproblem im Verwaltungsrechte
(Verwaltungsarchiv XIX 128ff., 442ff. XX, 102ff... F. Stein, Justiz
und Verwaltung 8. 98ff. Über den Begriff der Rechtskraft im allgemeinen
vgl. auch unten $ 15.
36 Beispiel: Einem Geschäftsinhaber ist am 18. Mai 1905 durch poli-
zeiliche Verfügung unter Androhung von Ungehorsamsstrafen verboten
worden, Benzin in seinem Warenhaus zu lagern. Der Geschäftsherr läßt
die Rekursfrist unbenutzt verstreichen. Ende Juni 1905 entdeckt die
Polizei bei ihm ein Benzinlager. Sie auferlegt Ungehorsamsstrafe. Der
Bestrafte ruft zunächst die übergeordneten Verwaltungsbehörden an und
behauptet, das Verbot, Benzin zu lagern, sei unzulässig. Er wird jedoch
von ihnen abgewiesen; auch das Oberverwaltungsgericht weist die An-
fechtungsklage zurück mit der Begründung, die Verfügung vom 18. Mai
1905 sei formell rechtskräftig geworden, er müsse sie infolgedessen gegen
sich gelten lassen. Urteil des Kgl. Sächs. Oberverwaltungsgerichts vom
31. Januar 1906 (Jahrbücher VIII S. 288). Badische Verw. RPflG. $ 4,