$ 23. Polizeigewalt. 375
ferner nicht als zarter besaitet aufspielen, als der Normalmensch ;
nicht jede Ungehörigkeit, wie beispielsweise das Tabakrauchen
halbwüchsiger Burschen auf der öffentlichen Straße, darf von
ihnen zum „öffentlichen Ärgernis‘ gestempelt werden.*
3. Die Polizei hat sich an den Störer zu wenden, nicht an
denjenigen, der sich in gesetzmäßiger Ausübung eines Rechtes
befindet.** Gegen diesen Fundamentalsatz verstößt die Polizei,
wenn sie beispielsweise eine ruhige, in einem Privathause ab-
gehaltene Gebetsversammlung der Heilsarmee auflöst, um dem
Pöbel vor dem Hause den Anlaß zu weiteren Demonstrationen zu
nehmen,‘ oder wenn sie einem Ladeninhaber befiehlt, die im
Schaufenster ausgestellten Gegenstände zu entfernen, weil ihre
solchen Bezirk ohne weiteres die Genehmigung zur Abhaltung jeder öffent-
lichen Versammlung unter freiem Himmel zu versagen (Entscheidungen
Bd. 69, S. 2989). — Von dem im Text genannten Standpunkte aus ist auch
die an die Berliner Theaterleiter vom Polizeipräsidenten im Jahre 1911
erlassene Verfügung betr. Hutverbot nicht haltbar; die Verfügung ver-
pflichtet die Theaterleiter unter Strafandrohung. dafür zu sorgen, daß die
Besucher und insbesondere Besucherinnen der Logen, des Parketts usw.
während des Spiels ihre Hüte abnehmen; denn die Gefahr liege nahe,
daß Besucher, denen die Aussicht versperrt wird, „durch den Ausdruck
ihres Unmutes Störungen der öffentlichen Ordnung während der Vor-
stellung veranlassen“. DJZ. XVI 1539. Preuß. OVG. 13. Mai 1912 (Ent-
scheidungen Bd. 61, S. 332).
«4 Kamptz und Delius, Rechtsprechung des Reichsgerichts und
Kammergerichts I 3. 280. — Die von Kinematographentheatern ange-
kündigten Titel „Brennende Triebe‘, „Fluch der Sünde‘ dürfen von der
Polizei schon aus preßrechtlichen Gründen nicht beanstandet werden.
Badischer VGH. 24. April 1912 (Bad. Rechtspraxis 1912, 8. 183). Über
die Zulässigkeit der Filmtitelzensur 8. die Aufsätze von May im Preuß.
Verw.Bl. XX XIII 718 und von A. Hellwigim Archivd.öff.R.XXVIII 114
und Preuß. Verw.Bl. XXXIV 66, 210. .
45 Qui jure suo utitur neminem laedit, gilt für den Bürger auch im
öffentlichen Recht: Die Aufforderung zum Boykott darf im Hinblick
auf die reichsrechtlich garantierte Koalitionsfreiheit (Gew.-O. $ 152) nicht
durch Polizeiverordnung verboten werden. OLG. Dresden 1. März 1911
(Reger XXX1 308). Die zivilrechtlichen Folgen einer solchen Aufforde-
rung bleiben davon unberührt. Reichsgericht in Zivilsachen Bd. 76, S. 35.
— S. auch Prenß. OVG. 17. März 1910 (Entscheidungen Bd. 56, S. 366).
DJZ. XV 1343.
46 Fleiner, Staatsrechtl. Gesetze Württembergs S. 496.