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den Inhalt des aufgehobenen Zivilrechtssatzes festgehalten und zu
einem Gewohnheitsrechtssatz öffentlichen Rechtes umgebildet hat.
So steht — um nur ein Beispiel anzuführen — dem Beamten
wegen der vom Gesetzgeber während seiner Amtsdauer verfügten
Gehaltsverkürzung ein im öffentlichen Rechte begründeter
Schadenersatzanspruch zu kraft eines Satzes, der aus der Periode
stammt, in der das Beamtenverhältnis unter den Normen des
Dienstvertrages gestanden hat.?* Man wende nicht ein, in solchen
Fällen werde das fragliche Rechtsverhältnis lediglich mit einer
neuen Etikette versehen, während im übrigen alles beim Alten
bleibe. Die Versetzung in das öffentliche Recht wird in der
Folge nach allen Seiten wirksam; sie erlangt Bedeutung für den
Gerichtsstand, die Verjährung, die Exekution u. a. m.
Diese Erscheinungen sind jedoch singulärer Natur. In den
meisten Fällen bleibt nichts übrig, als beim Schweigen des Ge-
setzes auf den Grundsatz zurückzugreifen, daß jedes Rechts-
system aus sich selbst zu ergänzen ist, und daß demgemäß eine
vermeintliche Lücke im Systeme des öffentlichen Rechts durch
Vorschriften auszufüllen ist, die dem Gedankenkreise des öffent-
lichen Rechtes entstammen. Um diese ungeschriebenen Sätze des
öffentlichen Rechts zu ergründen, muß man sich daran erinnern,
daß jedes Recht unausgesprochene Rechtsgedanken in sich birgt.??
Sie treten zunächst nicht in das Bewußtsein des Gesetzgebers,
weil sein Blick naturnotwendig nur auf das bereits Gewordene,
nicht auch auf das Schlummernde, nur auf das praktisch
unmittelbar Anwendbare, und nicht auch auf das abstrakt Mögliche
22 Otto Mayer, II S. 229, 250. — Der im Texte entwickelte Satz
ist insbesondere in der schweizerischen Rechtsprechung mehrfach zur
Anwendung gekommen. Vgl. z. B. Entscheidungen des Schweizerischen
Bundesgerichts, XVI (1890) S. 435ff. — Den Übergang von der privat-
rechtlichen zur öffentlich-rechtlichen Beurteilung des Beamtenverhält-
nisses bezeichnet die Schrift von Perthes, Über den Staatsdienst in
Preußen, 1838.
23 Ich teile vollkommen die Ansicht, die Hellwig, Deutsches Zivil-
prozeßrecht, II S. 163ff. in ausgezeichneter Erörterung entwickelt hat.
Was Hellwig für das Privatrecht und das Prozeßrecht ausführt, gilt auch
für das Verwaltungsrecht. Die verschiedenen Methoden der Rechts-
gewinnung erörtert Ph. Heck, Das Problem der Rechtsgewinnung, 1912
S. 7—12. S. ferner E. J. Bekker, Grundbegriffe des Rechts und MiBß-
griffe der Gesetzgebung 1910, S. 174ff., 194fi.