86 $ 5. Quellen des Verwaltungsrechts.
beruhen muß, so schließen sie damit die Begründung öffentlicher
Pflichten durch Gewohnheitsrecht aus (vgl. unten $ 8). Eine
verbreitete Ansicht? behauptet jedoch, soweit der Gesetzgeber
einen freien Raum gelassen habe, vermöge sich ein Gewohnheits-
recht zu bilden.°* Diese Behauptung geht zu weit. Sie verkennt,
daß nach der soeben angeführten Verfassungsvorschrift die Frei-
heit des Untertans von der Staatsgewalt, die pflichtenfreie
Sphäre, vom Gesetzgeber gewollt, somit Rechtsgrundsatz ist.
Eine von der Verwaltungsbehörde oder von den Untertanen be-
tätigte abweichende Übung stellt sich daher als Gesetzesverletzung
dar.°° Sie widerspricht dem Grundsatze der gesetzmäßigen Ver-
waltung, auf dem der ganze moderne Rechtstaat ruht und ist
daher nicht imstande, Recht zu erzeugen.
Gewohnheitsrecht vermag sich aber auch dort nicht zu bil-
den, wo der Gesetzgeber der Verwaltungsbehörde freies Ermessen
zugestanden hat. Denn mit der Anweisung, eine Angelegenheit
nach freiem Ermessen zu erledigen, beabsichtigt der Gesetzgeber,
der Wandelbarkeit der Bedürfnisse Rechnung zu tragen. Diese
Absicht würde vereitelt, wenn die Verwaltungsbehörde an eine
53 Stier- Somlo, Die Einwirkung des bürgerl. Rechts auf das preuß.-
deutsche Verwaltungsrecht, S. 135ff. und die dort zitierten Autoren.
Anschütz, im Preuß. Verwaltungsblatt XXIIS. 86ff. Göz, Verwaltungs-
rechtspflege in Württemberg, S. 155. Seidler, Zur Lehre vom Gewohn-
heitsrecht auf dem Gebiet des österr. Staats- und Verwaltungsrechts
(Festschrift der Wiener juristischen Fakultät für Unger, 1898) und
dazu die Kritik von Otto Mayer, im Archiv für öff. Recht XIV
S. 132ff.
5% So wird in Staaten, deren Gesetzgebung über die Straßenreinigungs-
pflicht keine besondere Vorschrift aufgestellt hat, behauptet, es könne
durch Observanz die der Gemeinde obliegende Pflicht zur Straßen-
reinigung auf die Anlieger überwälzt werden. Vgl. die Judikatur bei
Kamptz u. Delius, Rechtsprechung des Reichs- und des Kammer-
gerichts auf den Gebieten des öffentl. Rechte, I S. 255, II S. 899;
Erg.-Bd. 1906--1910 8. 108ff. Reichsgericht in Zivilsachen Bd. 76, S.113.
Germershausen, Wegerecht und Wegeverwaltung in Preußen, I?
S. 380.
65 Dies wird energisch betont in der Tübinger staatswissenschaft-
lichen Doktordissertation (1907) von Karl Bräuer, Die Belastung der
Adjazenten mit Trottoirbeiträgen nach pfälzischem Recht (Archiv f.
öffentl. Recht XXI S. 523ff.). Vgl. auch Kamptz u. Delius, Recht-
sprechung d. Reichs- u. Kammergerichts, Erg.-Bd. 1906—1910 S. 109.