I. Armenrecht (Geschichtliches)
191
des Verarmten eine Last, die direkten Aufwand
erheischte und die dem Fremden gegenüber zu
tragen die Gemeinde sich aufs äußerste sträubte.
Diesen Gegensatz zu überwinden ist das Bestreben
der Ggebung seit dem Ende des 18. Ihd. mit dem
Ziel, einen Ausgleich zwischen der wirtschaftlichen
Freiheit und der ALast zu finden. Der immer
stärker und allmählich mit Ausschließlichkeit sich
durchsetzende leitende Gedanke wird das sogen.
wirtschaftliche Aequivalent. Es wird
davon ausgegangen, daß jeder arbeitskräftige
Mensch derienigen Gemeinde Vorteil bringe, in
der er eine zeitlang gewohnt, gearbeitet, Steuern
bezahlt, sein Geld verzehrt hat usw. Gehört jemand
also einer Gemeinde durch Geburt an, hat sie aber
im arbeitskräftigen Alter verlassen, um in einem
andern Gemeinwesen zu leben und zu arbeiten,
so hat nicht jene Gemeinde — die HGemeinde im
alten Sinne — sondern die zweite H — die Auf-
enthaltsgemeinde im neuen Sinne — den wirt-
schaftlichen Vorteil davon. Jene muß daher von
der eetwaigen ALast frei, diese aber damit belastet
werden. Wie lange die Abwesenheit dauern muß,
um den Zusammenhang mit der HGemeinde zu
lösen, wie lange der Aufenthalt, um das neue Ver-
pflichtungsverhältnis zu begründen, diese Frage
kann verschieden beantwortet werden und ist durch
die Ggebungen der einzelnen Staaten tatsächlich
sehr verschieden beantwortet worden. Im allge-
meinen strebte die Gesetzgebung der Lösung
zu, in der Fristsetzung ein Merkmal zu geben,
das ohne erhebliche Schwierigkeiten erken-
nen ließ, wohin jemand armenrechtlich gehören
sollte, und dieses Verhältnis von den übrigen Be-
ziehungen zu der Gemeinde, wie namentlich Gew-
Betrieb, Teilnahme an den Bürgernutzungen u.
dgl. vollständig loszulösen. Den Abschluß dieser
Bewegung bildete für Preußen die Ggebung
von 1842 und 55, die im bewußten Gegensatz zu
der alten HGesetzgebung den Zwiespalt dadurch
auszugleichen suchte, daß sie als einziges Zuge-
hörigkeitsmerkmal einen kürzeren, nicht
qualifizierten Aufenthalt innerhalb einer Gemeinde
bezw. eines Gutsbezirks bezeichnete. Das durch
solchen Aufenthalt in Ansehung der AgFürsorge,
aber auch lediglich dieser, begründete Rechtsver-
hältnis wird „Unterstützungswohnsitz“ genannt. Ent-
sprechend dieser Auffassung soll die Verpflichtung
aber wieder erlöschen, sobald von einem wirtschaft-
lichen Autzen nicht mehr die Rede sein kann, d. h.
wenn ein Individuum aus einem Bezirk längere
Zeitabwesend gewesen ist. Für solche aber,
welche zwar durch längere Abwesenheit in dem
einen Bezirke den UW verloren, einen neuen UW
aber in einem anderen durch genügend langen
Aufenthalt nicht erworben haben, wird die ALast
größeren Bezirken auferlegt. Die Gemeinde wird
in Ansehung ihrer armenrechtlichen Verpflichtung
als OAvV, der größere Bezirk als LA# bezeichnet.
5s 3. Eutwicklung der Armengesetzgebung. Die
Grundgedanken dieser Ggebung eignete sich der
Norddeutsche Bund in seiner Ggebung
von 67—70 an. Auch für ihn ist es besonders
bemerkenswert, daß er wie Preußen 42 seine wirt-
schaftliche Ggebung betr. Freizügigkeit, Gew Frei-
heit, Eheschließung usw. nicht glaubt abgeschlossen
zu haben, ohne die daraus sich für die Apasten
ergebenden Folgen zu ziehen.
Das G des Nordd. Bundes trägt die Bezeich-
nung G über den U v. 6. 6. 70. Es
wurde demnächst mit anderen Gesetzen des N. B.
auf das Reich übernommen (Baden und Würt-
temberg erst nachträglich durch G v. 8. 11. 71).
Nur für Bayern und Elsaß-Lothringen, für jenes
auf Grund seines Sonderabkommens, für dieses
weil das Fortbestehen seines bisherigen Zustandes
zunächst für wünschenswert erachtet wurde, blieb
die Geltung des UWG ausgeschlossen. Für ihr
Verhältnis zu dem übrigen Reichsgebiet gelten die
Gothaer und Eisenacher Konvention (unten § 11).
Doch ist im übrigen darauf hinzuweisen, daß a 3
RV, betr. die gemeinsame deutsche Reichsan-
geehörigkeit, und das G v. 7. 11. 67, betr.
die Freizügigkeit, ausnahmslos für das
ganze Reich Geltung haben, daß also alle Sonder-
bestimmungen, welche mit den hieraus erwach-
senden Rechten jedes deutschen Reichsangehörigen
im Widerspruch stehen, unwirksam sind.
Das UWG ist zweimal durch die Novellen
v. 12. 3. 94 und v. 30. 5. 08 ergänzt worden.
Beide Male in der Richtung, daß der Erwerb des
U in einer andern Gemeinde erleichtert, die
Fristen herabgesetzt und verkürzt wurden. So
wurde 1894 die Altersgrenze von 24 auf 18,
1908 von 18 auf 16 und 1908 auch gleichzeitig die
Erwerbs= und Verlustfrist von zwei auf ein Fahr
herabgesetzt. Außerdem wurde 1908 die Rechts-
einheit mit Elsaß-Lothringen hergestellt, wo das
UW am 1. 4. 1910 in Kraft getreten ist
(unten §& 10). An der Struktur des Gesetzes ist im
übrigen durch die Novellen nichts geändertworden.
Doch mag bemerkt werden, daß 1908 ein nicht
unwichtiger Schönheitsfehler beseitigt und in dem
ganzen G der noch aus der Zeit des Nordd. B.
herrührende Ausdruck „Norddeutscher“ durch das
Wort „Deutscher“ ersetzt ist.
1. Geltungsgebiet des Gesetzes über den
Unterstützungswohnsitz.
Bemerkung. lI. Zu dem UW G v. 6. 6. 70 und den
Novellen v. 12. 3. 94 und 30. 5. 08 als G. über den UW
durch Bek des R##v. 30. 5. 08 in neuer Fassung publiziert
(Rl o8 377) find von den beteiligten Staaten die nachste-
henden A bezw. Verordnungen erlassen:
1) Preußen. As v. 8. 3. 71: f. Lauenbg. v.
24. 6. 1871. Abänderung G (Erweiterung der Landarmenlast)
v. 11. 7. 91. Auedehn. auf Helgoland V. v. 1. 12. 05.
2) Sachsen. Heim. G v. 26. 11. 34; AO v. 22.10. 40; AG
v. 6. 6. 71. — 3) Württemberg. Ac# v. 17. 4. 73; G
betr. Abänderung des G v. 17. 4. 73 v. 2. 7. 89. —
4) Baden. G. b. össentl. Afl. betr. v. 5. 5. 70; A v.
14. 3. 72. — 5) Hessen. A## v. 14. 7. 71; G betr. die
Kosten d. LA#flege v. 24. 5. 93. 6) M.-Schwerin.
Ausf.-B v. 20. 2. 71; VB üb. d. Verf. in Heimats. v. 30. 6.
71. — 7) S.-W.eimuar. A##v. 23. 2. 72.— 8) M.-Stre-
litz. Ausf.-B v. 20. 2. u. 27. 4. 71; B üb. d. VBerf i.
H. v. 4. 7. 71; G v. 2. 7. 89. — 9) Olden burg.
a) Herzogt. ldenb. Rev. Gem O v. 15. 4. 7)3.
b) IFstt. Birkenfeld. G üb. d. A.; rev. Gem O v. 28.
3. 76; G betr. Abänderung usw. v. 22. 1. 94. c) Fstt.
Lübeck. Rev. Gem O v. 30. 3. 76. — 10) Braun-
schweig. Ac v. 5. 6. 71. — 11) S.-Meiningen.
Ac v. 24. 2. 72; G betr. den Ersatz empfangener Au v.
26. 4. 88 und G v. 14. 12. 89. — 12) S.-Altenburg.
Ausf.-V v. 3. 6. 71. — 13) S.-Kob.-Gotha. Ac# v. 31. 5.
71. — 14) Anhalt. AE v. 29. 6. 71. — 15) Schw.=
Sondershausen. Ac# v. 25. 1. u. 28. 10. 72.—