Full text: Wörterbuch des Deutschen Staats- und Verwaltungsrechts. Erster Band. A bis F. (1)

  
I. Armenrecht (Geschichtliches) 
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des Verarmten eine Last, die direkten Aufwand 
erheischte und die dem Fremden gegenüber zu 
tragen die Gemeinde sich aufs äußerste sträubte. 
Diesen Gegensatz zu überwinden ist das Bestreben 
der Ggebung seit dem Ende des 18. Ihd. mit dem 
Ziel, einen Ausgleich zwischen der wirtschaftlichen 
Freiheit und der ALast zu finden. Der immer 
stärker und allmählich mit Ausschließlichkeit sich 
durchsetzende leitende Gedanke wird das sogen. 
wirtschaftliche Aequivalent. Es wird 
davon ausgegangen, daß jeder arbeitskräftige 
Mensch derienigen Gemeinde Vorteil bringe, in 
der er eine zeitlang gewohnt, gearbeitet, Steuern 
bezahlt, sein Geld verzehrt hat usw. Gehört jemand 
also einer Gemeinde durch Geburt an, hat sie aber 
im arbeitskräftigen Alter verlassen, um in einem 
andern Gemeinwesen zu leben und zu arbeiten, 
so hat nicht jene Gemeinde — die HGemeinde im 
alten Sinne — sondern die zweite H — die Auf- 
enthaltsgemeinde im neuen Sinne — den wirt- 
schaftlichen Vorteil davon. Jene muß daher von 
der eetwaigen ALast frei, diese aber damit belastet 
werden. Wie lange die Abwesenheit dauern muß, 
um den Zusammenhang mit der HGemeinde zu 
lösen, wie lange der Aufenthalt, um das neue Ver- 
pflichtungsverhältnis zu begründen, diese Frage 
kann verschieden beantwortet werden und ist durch 
die Ggebungen der einzelnen Staaten tatsächlich 
sehr verschieden beantwortet worden. Im allge- 
meinen strebte die Gesetzgebung der Lösung 
zu, in der Fristsetzung ein Merkmal zu geben, 
das ohne erhebliche Schwierigkeiten erken- 
nen ließ, wohin jemand armenrechtlich gehören 
sollte, und dieses Verhältnis von den übrigen Be- 
ziehungen zu der Gemeinde, wie namentlich Gew- 
Betrieb, Teilnahme an den Bürgernutzungen u. 
dgl. vollständig loszulösen. Den Abschluß dieser 
Bewegung bildete für Preußen die Ggebung 
von 1842 und 55, die im bewußten Gegensatz zu 
der alten HGesetzgebung den Zwiespalt dadurch 
auszugleichen suchte, daß sie als einziges Zuge- 
hörigkeitsmerkmal einen kürzeren, nicht 
qualifizierten Aufenthalt innerhalb einer Gemeinde 
bezw. eines Gutsbezirks bezeichnete. Das durch 
solchen Aufenthalt in Ansehung der AgFürsorge, 
aber auch lediglich dieser, begründete Rechtsver- 
hältnis wird „Unterstützungswohnsitz“ genannt. Ent- 
sprechend dieser Auffassung soll die Verpflichtung 
aber wieder erlöschen, sobald von einem wirtschaft- 
lichen Autzen nicht mehr die Rede sein kann, d. h. 
wenn ein Individuum aus einem Bezirk längere 
Zeitabwesend gewesen ist. Für solche aber, 
welche zwar durch längere Abwesenheit in dem 
einen Bezirke den UW verloren, einen neuen UW 
aber in einem anderen durch genügend langen 
Aufenthalt nicht erworben haben, wird die ALast 
größeren Bezirken auferlegt. Die Gemeinde wird 
in Ansehung ihrer armenrechtlichen Verpflichtung 
als OAvV, der größere Bezirk als LA# bezeichnet. 
5s 3. Eutwicklung der Armengesetzgebung. Die 
Grundgedanken dieser Ggebung eignete sich der 
Norddeutsche Bund in seiner Ggebung 
von 67—70 an. Auch für ihn ist es besonders 
bemerkenswert, daß er wie Preußen 42 seine wirt- 
schaftliche Ggebung betr. Freizügigkeit, Gew Frei- 
heit, Eheschließung usw. nicht glaubt abgeschlossen 
zu haben, ohne die daraus sich für die Apasten 
ergebenden Folgen zu ziehen. 
Das G des Nordd. Bundes trägt die Bezeich- 
  
  
nung G über den U v. 6. 6. 70. Es 
wurde demnächst mit anderen Gesetzen des N. B. 
auf das Reich übernommen (Baden und Würt- 
temberg erst nachträglich durch G v. 8. 11. 71). 
Nur für Bayern und Elsaß-Lothringen, für jenes 
auf Grund seines Sonderabkommens, für dieses 
weil das Fortbestehen seines bisherigen Zustandes 
zunächst für wünschenswert erachtet wurde, blieb 
die Geltung des UWG ausgeschlossen. Für ihr 
Verhältnis zu dem übrigen Reichsgebiet gelten die 
Gothaer und Eisenacher Konvention (unten § 11). 
Doch ist im übrigen darauf hinzuweisen, daß a 3 
RV, betr. die gemeinsame deutsche Reichsan- 
geehörigkeit, und das G v. 7. 11. 67, betr. 
die Freizügigkeit, ausnahmslos für das 
ganze Reich Geltung haben, daß also alle Sonder- 
bestimmungen, welche mit den hieraus erwach- 
senden Rechten jedes deutschen Reichsangehörigen 
im Widerspruch stehen, unwirksam sind. 
Das UWG ist zweimal durch die Novellen 
v. 12. 3. 94 und v. 30. 5. 08 ergänzt worden. 
Beide Male in der Richtung, daß der Erwerb des 
U in einer andern Gemeinde erleichtert, die 
Fristen herabgesetzt und verkürzt wurden. So 
wurde 1894 die Altersgrenze von 24 auf 18, 
1908 von 18 auf 16 und 1908 auch gleichzeitig die 
Erwerbs= und Verlustfrist von zwei auf ein Fahr 
herabgesetzt. Außerdem wurde 1908 die Rechts- 
einheit mit Elsaß-Lothringen hergestellt, wo das 
UW am 1. 4. 1910 in Kraft getreten ist 
(unten §& 10). An der Struktur des Gesetzes ist im 
übrigen durch die Novellen nichts geändertworden. 
Doch mag bemerkt werden, daß 1908 ein nicht 
unwichtiger Schönheitsfehler beseitigt und in dem 
ganzen G der noch aus der Zeit des Nordd. B. 
herrührende Ausdruck „Norddeutscher“ durch das 
Wort „Deutscher“ ersetzt ist. 
1. Geltungsgebiet des Gesetzes über den 
Unterstützungswohnsitz. 
Bemerkung. lI. Zu dem UW G v. 6. 6. 70 und den 
Novellen v. 12. 3. 94 und 30. 5. 08 als G. über den UW 
durch Bek des R##v. 30. 5. 08 in neuer Fassung publiziert 
(Rl o8 377) find von den beteiligten Staaten die nachste- 
henden A bezw. Verordnungen erlassen: 
1) Preußen. As v. 8. 3. 71: f. Lauenbg. v. 
24. 6. 1871. Abänderung G (Erweiterung der Landarmenlast) 
v. 11. 7. 91. Auedehn. auf Helgoland V. v. 1. 12. 05. 
2) Sachsen. Heim. G v. 26. 11. 34; AO v. 22.10. 40; AG 
v. 6. 6. 71. — 3) Württemberg. Ac# v. 17. 4. 73; G 
betr. Abänderung des G v. 17. 4. 73 v. 2. 7. 89. — 
4) Baden. G. b. össentl. Afl. betr. v. 5. 5. 70; A v. 
14. 3. 72. — 5) Hessen. A## v. 14. 7. 71; G betr. die 
Kosten d. LA#flege v. 24. 5. 93. 6) M.-Schwerin. 
Ausf.-B v. 20. 2. 71; VB üb. d. Verf. in Heimats. v. 30. 6. 
71. — 7) S.-W.eimuar. A##v. 23. 2. 72.— 8) M.-Stre- 
litz. Ausf.-B v. 20. 2. u. 27. 4. 71; B üb. d. VBerf i. 
H. v. 4. 7. 71; G v. 2. 7. 89. — 9) Olden burg. 
a) Herzogt. ldenb. Rev. Gem O v. 15. 4. 7)3. 
b) IFstt. Birkenfeld. G üb. d. A.; rev. Gem O v. 28. 
3. 76; G betr. Abänderung usw. v. 22. 1. 94. c) Fstt. 
Lübeck. Rev. Gem O v. 30. 3. 76. — 10) Braun- 
schweig. Ac v. 5. 6. 71. — 11) S.-Meiningen. 
Ac v. 24. 2. 72; G betr. den Ersatz empfangener Au v. 
26. 4. 88 und G v. 14. 12. 89. — 12) S.-Altenburg. 
Ausf.-V v. 3. 6. 71. — 13) S.-Kob.-Gotha. Ac# v. 31. 5. 
71. — 14) Anhalt. AE v. 29. 6. 71. — 15) Schw.= 
Sondershausen. Ac# v. 25. 1. u. 28. 10. 72.—
	        
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