Full text: Wörterbuch des Deutschen Staats- und Verwaltungsrechts. Erster Band. A bis F. (1)

ergibt. Die Wahlkapitulation — das sei in die- 
sem Zusammenhange bemerkt — verbot dem 
Kaiser Eingriffe in die Rechtswirkung „unstreitig 
notorischer Mißheiraten“ „eines Standes des 
Reichs oder aus solchem Hause entsprossenen 
Herren“, woraus zu entnehmen ist: 1. das Bestehen 
eines E. Rechts für den hohen Adel war den Kur- 
fürsten unzweifelhaft; 2. der Inhalt dieses Rech- 
tes, die Abgrenzung der E., war ihnen so zweifel- 
haft, daß sie sich nicht getrauten, sie zu bestimmen 
(sie regten reichsgesetzliche Bestimmung an, die 
jedoch nie erfolgt ist). Streitig war in der Praxis 
wie in der Theorie, ob der niedere Adel dem hohen 
Adel ebenbürtig sei. Tatsächlich sind im 16., 17. 
und 18. Jahrhundert eine Reihe derartiger Ehen 
vorgekommen, ohne daß sie als Mißheiraten be- 
handelt wurden. Aus diesen Ehen hat man da- 
mals vielfach die E. des hohen und des niederen 
Adels ableiten wollen (sog. „laxe“ Theorie), und 
heute glauben manche Schriftsteller daraus schlie- 
ßen zu müssen, daß das sog. strenge Ebenburtsrecht 
am Beginne der Neuzeit erloschen und erst im 
18. Jahrhundert neu entstanden sei infolge des 
Strebens der reichsständischen Familien, den 
splendor familiae zu heben. Das ist an sich wohl 
denkbar, aber Beweise dafür sind nicht erbracht. 
Die wenigen bekannten Mißheiraten, die seit 
Moser immer wieder zum Beweise des „milden“ 
Ebenburtsrechts herangezogen werden, sind gro- 
ßenteils nicht beweiskräftig, weil sie die Eben- 
burtswirkungen nicht ipso iure gehabt, sondern 
erst durch Konsens der Agnaten oder kaiserliche 
Standeserhöhung erhalten haben; nur ganz we- 
nige von ihnen — einer der hervorragendsten 
Bertreter der milderen Lehre, Heffter, gibt 
sie selbst auf 2 an — sind einwandfrei beweis- 
kräftig. Daß diese wenigen Fälle jedoch, beson- 
ders in Berücksichtigung der autonomen Befug- 
nisse der einzelnen Familien, für die Gesamtheit 
des hohen Adels kein neues Recht beweisen kön- 
nen, ist selbstverständlich. Ohne Beweis aber 
bleibt die Vermutung für das Weiterbestehen 
des alten E. Rechts in Kraft. Dies Weiterbestehen 
war denn auch schon in der Mitte des 18. Jahr- 
hunderts in der Rechtswissenschaft fast allgemein 
anerkannt. J. J. Moser setzte zwar seine Auto- 
rität für die mildere Lehre ein, allein er sagt 
selbst (Familienstaatsrecht 137) von der Bewer- 
tung der Ehe zwischen Fürsten und Abdeligen: 
„Die meisten und geschicktesten neuen Staats- 
rechtslehrer halten es für ein Matrimonium 
juridice inaequale“. Dies Zeugnis ist nicht nur 
an sich von größter Bedeutung, sondern auch noch 
als Maßstab für die Bildung eines milderen Ge- 
wohnheitsrechtes: wären die wenigen hierfür 
anführbaren Beispiele auch ihrer Zahl nach ge- 
eignet, ein Gewohnheitsrecht zu bilden, so müßte 
man ihnen diese Fähigkeit deshalb aberkennen, 
weil man ihnen angesichts der entgegenstehenden 
herrschenden Lehre der Rechtswissenschaft die 
opinio necessitatis absprechen muß. Nachdem 
dann die herrschende Lehre von J. St. Pütter 
noch einmal ausführlich in ihrem Zusammenhang 
mit den deutschen staats= und standesrechtlichen. 
Verhältnissen begründet und verteidigt worden 
ist, muß man es bei Ausgang des alten 
Reichs als einen Satz des deutschen Reichs- 
staatsrechts ansehen, daß die reichsständi- 
schen Familien im allgemeinen 
v. Stengel--Fleischmann, Wörterbuch 2. Aufl. I. 
  
durch 
  
Ebenbürtigkeit (Begriff) 625 
das Ebenbürtigkeitsrecht 
auch von dem niederen Adel ge- 
trennt waren. 
2. Im allgemeinen jedoch nur, denn für zwei 
Gruppen reichsständischer Familien, die reichs- 
gräflichen und die neufürstlichen (d. i. Fa- 
milien, die gegen Ausgang des 16. Jahrhunderts 
noch keine Virilstimmen im Fürstenrat hatten), war 
die Rechtslage zweifelhaft. In diesen Familien 
sind im 17. und 18. Jahrhundert sehr zahlreiche 
Ehen mit Personen von niederem Adel vorge- 
kommen. Angesehene Rechtslehrer leiteten daraus 
ein Sonderrecht für jene Gruppe ab. Sehr ein- 
leuchtend ist insbesondere, was D. G. Struben 
(Nebenstunden 5, 248; Rechtl. Bedenken 2, 606) 
in dieser Hinsicht sagt: in jener Zeit habe das An- 
sehen der Fürsten einerseits und des niederen 
Adels andererseits so zugenommen, daß man 
nicht mehr ohne weiteres vom Recht der Fürsten 
auf das der Grafen schließen könne. Die gräflichen 
Geschlechter waren in der Tat ihres geringen 
Länderbesitzes wegen nicht in der wirtschaftlichen 
Lage, dieselbe vornehme Praxis zu üben, wie 
sie den Fürsten die Rücksicht auf den splendor 
kamiliae gebot und die landesherrliche Gewalt 
und Militärmacht durch Mehrung ihres Geld- 
und Länderbesitzes ermöglichte. Diesem ökono- 
mischen Moment ist große Bedeutung beizumessen, 
haben doch selbst altfürstliche Häuser infolge wirt- 
schaftlichen Sinkens das mildere Ebenburtsrecht 
angenommen (Beispiel: Die herzoglichen Neben- 
linien des Hauses Oldenburg, die infolge des durch 
zahllose Teilungen bewirkten wirtschaftlichen Sin- 
kens zum milderen Recht übergingen trotz ihres 
altfürstlichen Charakters und unbeschadet des 
Weiterbestehens des strengeren Rechtes in ande- 
ren Zweigen des Gesamthauses). Es ist also sehr 
wohl möglich, daß sich schon im 18. Jahrhundert 
ein Sonderrecht der gräflichen und neufürstlichen 
Häuser gebildet hat. So nimmt denn auch der 
Reichshofrat 1753 im Streite um die Ehe des 
Grafen, Friedrich Ernst zur Lippe--Alverdissen 
und der' Philippine Elisabeth von Friesenhausen 
eine „unleugbare Observanz in denen vornehm- 
sten gräflichen Häusern Teutschlands“ für die E. 
des niederen Adels an. Und doch werden immer 
noch Bedenken gegen die Richtigkeit dieser An- 
nahme bestehen: J. St. Pütter hält sie direkt für 
falsch. Wir können uns daher nicht unbedingt zu 
der herrschenden Ansicht unserer heutigen Wissen- 
schaft bekennen, die unbesehen jene Auffassung 
der höchsten Reichsgerichte des alten Reichs zu 
der ihrigen macht und für das 18. Jahrhundert 
ein feststehendes Sonderrecht der gräflichen und 
neufürstlichen Familien als erwiesen annimmt. 
Aisbesondere können wir die jetzt am meisten hier- 
ür herangezogene Rechtsauffassung des Reichs- 
kammergerichts in Sachen Friesenhausen nicht als 
beweiskräftig ansehen; denn sie ist, wie sich aus 
den neuerdings veröffentlichten Entscheidungs- 
gründen ergibt, lediglich eine Folge der unzweifel- 
haft falschen Ansicht der romanistischen Juris- 
prudenz, daß zwischen hohem und niederem Adel 
überhaupt kin rechtlicher Unterschied, daher auch 
keine Unebenbürtigkeit bestehen könne. Wenn wir 
im allgemeinen in solchen Fragen, der herrschen- 
den Meinung folgend, den romanistisch und natur- 
rechtlich argumentierenden Urteilen der alten 
Reichsgerichte keine entscheidende Bedeutung 
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