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Gewohnheitsrecht
Jellinek, Verfassungsänderungen und Verfassungs-
wandlungen 1906).
2. Von der Abänderung durch Gew sind
auch die höchsten Prinzipien der Verfassung eines
Staates nicht ausgenommen (and. Ans. Gerber-
S. 14—15, der allerdings diese Prinzipien als
Überhaupt der fortschreitenden Rechtsbildung im
Staate entzogen ansieht; gegen ihn Meyer-
Anschütz 53). Vielmehr zeigt sich die Kraft das
Gews zu allen Zeiten ganz besonders in den
obersten Fragen des staatlichen
Zusammenlebens. Entstehung und Un-
tergang von Staaten, Aenderungen der Staats-
form, größerer Zuwachs oder Verlust von Staats-
gebiet vollziehen sich sehr häufig zunächst auf
rein tatsächlichem Wege und dann meist sogar
durch rechtswidrige Gewalt. Staatsrechtliche
Sanktion erhält der so geschaffene neue Zustand,
wenn er sich behauptet und befestigt, meist durch
die ihm allmählich sich anpassende rechtliche Ueber-
zeugung und Uebung der Beteiligten, d. h. auf
gewohnheitsrechtlichem Wege. Durch die Ein-
wirkung des Gews werden auch zahlreiche andere
staatsrechtlich fehlerhafte Vorgänge
geheiltz; insbesondere mit einem wesentlichen
rechtlichen Mangel in ihrer Entstehung oder Ver-
kündigung behaftete Gesetze und Verordnungen,
ebenso einzelne derartige Bestimmungen in Ge-
setzen und Verordnungen, erlangen durch eine in
der Ueberzeugung von ihrer Rechtsgültigkeit statt-
gehabte konstante Befolgung die ihnen ursprüng-
ich mangelnde Rechtsgültigkeit. Dieser Gesichts-
punkt ist insofern von besonders großer prakti-
scher Bedeutung, als durch das Vorliegen einer
solchen gewohnheitsrechtlichen Bekräftigung alle
rechtlichen Zweifel hinsichtlich der Gültigkeit der
betreffenden Satzung gegenstandslos werden.
3. Innerhalb der einzelnen staatsrechtlich wich-
tigen Kollegien, namentlich der parlamen-
tarischen und föderativen Versammlungen, bilden
sich nicht selten durch das von einer entsprechenden
rechtlichen Ueberzeugung getragene Verhalten
ihrer Mitglieder für ihre inneren Ange-
legenheiten maßgebende gewohnheitsrecht-
liche Sätze. Durch solche werden ihrer Ge-
schäftsordnung überlassene Punkte ge-
regelt. Dagegen Bestimmungen der Verfassungs-
urkunde, ebenso gewöhnlicher Gesetze, über die
Geschäftsbehandlung in diesen Versammlungen,
z. B. über ihre Beschlußfähigkeit, über die Oeffent-
lichkeit ihrer Sitzungen, können ebenso wenig wie
durch die Geschäftsordnung einseitig durch Obser-
vanz des Kollegiums bindend ausgelegt oder ab-
geändert werden; hier kommt es vielmehr auch
auf die rechtliche Ueberzeugung und das rechtliche
Verhalten der anderen Staatsorgane, unter Um-
ständen auch des Volkes, gegenüber den betreffen-
den Vorgängen an. ·
4. Staatsrechtliche Bedeutung hat auch, vor
allem für die Thronfolge, die Observanz
des landesherrlichen Hauses [s Autonomie, Lan-
desherr)].
# 6. Auf dem Gebiete des Verwaltungsrechts.
1. Im VerwRecht ist nach O. Mayer (1, 131 ff
die Entstehung von Gew durch die allgemeinen
Grundsätze unseres öffentlichen Rechts von selbst
ausgeschlossen (gl. M. Grotefend). Diese Be-
hauptung wird auf zwei Gründe gestützt. Einer-
seits soll im Rechtsstaate, wo kein gesestzlicher
Rechtssatz besteht, der die Behörde zu gewissen
Eingriffen in Freiheit und Eigentum ermächtigt,
hieraus hervorgehen, daß die gesetzgebende Ge-
walt solche Eingriffe nicht zulassen wollte. Ande-
rerseits soll, wo die rechtsetzenden Gewalten den
Verw Behörden Handeln nach pflichtmäßigem Er-
messen überlassen haben, ihnen dadurch verboten
sein, sich unter eine anderswoher genommene
bindende Regel zu stellen. Aber die erste Annahme
ist in dieser Allgemeinheit eine unbewiesene und
unbeweisbare, und eine Befugnis zum Handeln
nach pflichtmäßigem Ermessen schließt eine Bin-
dung an bestehende Rechtsregeln nicht aus, son-
dern ein (vgl. hierzu Seidler S 16, 40 ff und
Spiegel 185 ff). Daher gilt nicht nur altes
Gewn, wie auch O. Mayer zugibt, fortdauernd
in erheblichem Umfange auf dem Gebiete des
Verwechts, sondern auch neues Gewf
kann sich hier ebenso wie auf anderen Rechts-
gebieten bilden. Freilich wird tatsächlich durch
die immer größere Ausdehnung und Detaillie-
rung des gesetzten Verwechts die Entstehung
neuer gewohnheitsrechtlicher Normen sowohl über
die Organisation der Verwaltung als über die
Tätigkeit der VerwOrgane mehr und mehr ein-
geengt; aber neben der Ausfüllung noch verblei-
bender Lücken (z. B. in bezug auf die Ermächti-
gung einer Verw Behörde zum Erlaß von Pol Ver-
ordnungen — vgl. Rosin §5 13 Anm. 2) wird das
Gew auch die verwaltungsrechtlichen Gesetze
und Verordnungen bekräftigen, bindend ausle-
gen und sogar auch abändern können (RZ
37, 179 über desuetudo gegenüber einer in Ge-
setzesform erlassenen polizeilichen Vorschrift).
2. Für das Gewr auf dem Gebiet des Verw-
Rechts kommt vor allem die Uebung der Verw-
Behörden in Betracht, jedoch nur insofern, als
sie nicht lediglich von einer ihnen gelassenen Frei-
heit des Ermessens Gebrauch machen, sondern
sich durch rechtliche Erwägungen in ihren Amts-
handlungen bestimmen lassen. Schon deshalb
ist die Prais der Verw Behörden nicht iden-
tisch mit GewR. Sofern es sich aber um das Ver-
hältnis der VerwBehörden zu den Unter-
tanen, insbesondere um die Zulässigkeit von
Eingriffen der ersteren in die Freiheit oder das
Vermögen der letzteren handelt, sind das Verhal-
ten und die rechtliche Ueberzeugung dieser von
ebenso wesentlicher Bedeutung für die Frage
des Vorhandenseins eines Gew. Nur die
übereinstimmende Uebung und
Ueberzeugung beider Teile kann
ein derartiges Gewr schaffen. Dagegen wenn
die VerwBehörden an dem betreffenden Ver-
hältnis garnicht beteiligt sind, nur sich amtlich
mit öffentlichrechtlichen Beziehungen zwischen
Dritten zu befassen haben, sind ihre Amtshand-
lungen, besonders auch ihre Entscheidungen, und
die zugrunde liegende Rechtsüberzeugung für die
Bildung eines GewR (einer Observanz)
der betreffenden Gemeinschaft ohne Bedeutung
(OVG 22, 100).
Ziteratur: 1. Ueber GewR im allgemeinen und
auf dem Gebiete des Privatrechts: Puchta, Das Gew,
2 Teile, 1828 und 1837: Zitelmann, Gewsn und Frr-
tum, im Arch. f. civil. Praxis 66, 324 ff; Brie, Lehre
vom Gewd, 1 (Geschichtliche Grundlegung), 1899; Wind-
scheid- Kipp, Lehrbuch des Pandektenrechts, 1 4