Full text: Wörterbuch des Deutschen Staats- und Verwaltungsrechts. Zweiter Band. G bis N. (2)

  
Geistliche 
  
35 
  
  
Angabe der Gründe zu erlassen.“ Diese prozessua- dem Geistlichen bekleideten Kirchenamtes und der 
len Garantien festzuhalten und in dem strengen 
Sinne auszulegen, welcher allein ihrem gerechten 
Zwecke entspricht, hat gegenüber der neuesten 
Entwickelung des päpstlichen Rechts der Staat 
besonderen Grund. Durch Dekret der Congre-- 
gatio consistorialis v. 20. S. 1910 (A. S. A. II, 16), 
ist die amotio administrativa eingeführt. Die 
hier geordnete Entfernung der katholischen Pfarrer 
auf dem Verw Wege widerspricht aber dem Preu- 
Hhischen Staatsgesetz. Das Dekret bestreitet zwar 
ausdrücklich den disziplinarischen Charakter seiner 
Amotion. Da sie aber in ihrer Wirkung auf die 
Rechtslage des Geistlichen durchaus die Folgen 
schwerer Disziplinarstrafe haben kann, so ist 
jene Bestreitung für das staatliche Gebiet ohne 
praktischen Belang. Das Wesen eines „geord- 
neten prozessualen Verfahrens“ besteht in dem 
uneingeschränkten rechtlichen Gehör und der un- 
beschränkten materiellen Verteidigung durch Füh- 
rung des Entlastungsbeweises. Beides ist durch 
das päpstliche Dekret nicht im Sinne der Staats- 
gesetzgebung gewährleistet. Alles ruht im letzten 
Grunde beim freien Ermessen des Bischofs. Kon- 
flikte zwischen Staat und Kirche an diesem Punkte 
sind daher in Zukunft nicht ausgeschlossen, soweit 
nicht, wie in Bayern, eine ausdrückliche 
Plazetierung des Dekrets erfolgt ist. 
Auch in der evangelischen Kirche Preu- 
FfFens ist in jüngster Zeit durch das in §& 1 schon 
genannte KG v. 26. 3. 10 ein bestimmter Aus- 
schnitt des bisherigen Disziplinargebietes neu 
geregelt worden: die Irrlehre von Geist- 
lichen. Wegen Irrlehre findet ein disziplinares 
Einschreiten nicht mehr statt. An seine Stelle ist 
ein „Feststellungsverfahren“ getreten darüber, 
ob „ein Geistlicher in seiner amtlichen oder außer- 
amtlichen Lehrtätigkeit mit dem Bekenntnis der 
Kirche dergestalt in Widerspruch getreten ist, daß 
seine sernere Wirksamkeit innerhalb der Landes- 
kirche mit der für die Lehrverkündigung allein 
maßgebenden Bedeutung des in der hl. Schrift 
verfaßten und in den Bekenntnissen bezeugten 
Worte Gottes unvereinbar ist“. Jene Feststel- 
lung wird von einem Spruchkollegium getroffen, 
welches in der Gesamtzahl von 13 aus Vertre- 
tern des Kirchenregiments, der Synoden und der 
theologischen Wissenschaft zusammengesetzt ist. 
Das Verfahren gliedert sich in ein vorbercitendes 
Verfahren und eine mündliche Verhandlung. 
Diese findet unter beschränkter Oeffentlichkeit 
statt. Zwei bestellten Mitgliedern des Gemeinde- 
kirchenrates und einem Vertreter des Patrons 
muß der Zutritt gestattet werden. Der Geistliche 
kann sich zweier Beistände aus der Zahl der akti- 
ven landeskirchlichen Geistlichen, deutscher Univer- 
sitätslehrer der Theologie oder des Kirchenrechts 
bedienen. Für den Geistlichen besteht volle Frei- 
heit der Beweisführung. Die Feststellung der 
Unvereinbarkeit kann nur mit einer Mehrheit von 
zwei Dritteln erfolgen; zur Beschlußfähigkcit ist 
die Anwesenheit sämtlicher Mitglieder erforder- 
lich. Der Spruch ist mit Gründen zu versehen nach 
Maßgabe des Staats G v. 12. 5. 73 5+ 2 Abs 3. 
Die Feststellung enthält keinen Schuldspruch. 
Sie zieht daher auch keine Strafe nach sich. Die 
an den Feststellungsspruch sich knüpfenden Wir- 
kungen ergeben sich kraft objektiven Rechts. 
Kraft des Gesetzes tritt die Erledigung des von 
  
– — — – 
1 
6 
  
  
Wegfall der Rechte des geistlichen Standes ein. 
Dem Geistlichen wird ein Jahrgeld im Betrage 
des gesetzlichen Ruhegehaltes gewährt; die Wie- 
derbeilegung der infolge einer Feststellung ver- 
loren gegangenen Rechte des geistlichen Standes 
bleibt vorbehalten. Mit dieser Ordnung tritt das 
neue Verfahren bei Beanstandung der Lehre 
eines Geistlichen mit der Staatsgesetzgebung an 
keinem Punkte in Widerspruch, da es mit allen 
staatlich erforderten Garantien der Unparteilich- 
keit ausgestattet ist. Die kirchenrechtliche Würdi- 
gung steht hier nicht in Frage. 
c) Der Vollzug bkirchlicher Disziplinar- 
strafen unterliegt der Staatsaufsicht. Zwar findet 
eine Bestätigung kirchlicher Disziplinarentschei- 
dungen durch den Staat nicht mehr statt. Wohl 
aber findet eine Vollstreckung solcher im Wege der 
Staatsverwaltung nur dann statt, wenn sie nach 
erfolgter Prüfung der Sache für vollstreckbar er- 
klärt worden sind (in Preußen durch den Ober- 
präsidenten, l. c. 3 9, für Bayern vgl. RelEd. 
71 vb. & 51). Insbesondere sind die Demeri- 
tenanstalten der staatlichen Aufsicht unter- 
worfen. Der Charakter als reiner Strafanstalten 
wird von staatlicher Seite freilich nicht anerkannt. 
Die „Verweisung“ wird nur als „dienstliche An- 
weisung des Aufenthaltsortes“ zugelassen (vgl. 
Mot z. Preuß. G v. 12. 5. 73 in der Ausgabe 
von Hinschius). Daher „darf die Vollstreckung 
wider den Willen des Betroffenen weder begon- 
nen noch fortgesetzt werden“ (Preuß., l. c. 5 
Abs 2, Württb. Gv. 30. 1. 62 a 6 Abs 2). Die 
schon oben genannte Frist von 3 Monaten bildet 
jedenfalls nach Preuß. Recht eine Schranke für 
die Ausübung der kirchlichen Disziplinargewalt. 
Es darf also von vornherein nicht eine Verweisung 
auf längere Zeit stattfinden. Es müssen ferner 
alle Demeriten nach Ablauf dieser Zeit entlassen 
werden. Diese gesetzliche Vorschrift kann nicht 
durch freiwilliges längeres Verbleiben umgangen 
werden. Anders natürlich dann, wenn die Ver- 
weisung in die Anstalt nicht aus Gründen der 
Disziplin, sondern als Versorgungsmaßregel er- 
solgt war und die Anstalt gleichzeitig als Eme- 
ritenanstalt benutzt wird. Die konkrete 
Staatsaufsicht über die Demeritenhäuser wird in 
Preußen durch den Oberpräsidenten und den 
Kultusminister ausgeübt (Dienst Instr v. 31. 12. 
1825, Kab O v. 27. 10. 1810, 3. 11. 1817, Gv. 
21. 5. 86 àa 8). Hiernach sind letzterem die Statu- 
ten und die Hausordnung der Demeritenanstalten 
einzureichen, sowie die Namen ihrer Leiter mit- 
zuteilen. Am Schlusse jedes Jahres ist ein Ver- 
zeichnis der Demeriten nach Namen, erkannten 
Strafen, sowie Zeit der Aufnahme und Entlassung 
einzureichen. Der Oberpräsident ist nach § 8 
des G v. 12. 5. 73 befugt, die Befolgung dieser 
Vorschriften und der hiernach erlassenen Ver- 
fügungen durch Geldstrafen bis 3000 Mark zu 
erzwingen und diese zu wiederholen, bis dem 
Gesetze genügt ist. Außerdem kann die Demeriten- 
anstalt geschlossen werden. Während in Sach- 
sen Verweisung in eine Demeritenanstalt nicht 
gestattet ist, läßt in Württemberg das Auf- 
sichtsG v. 1862 a 6 Abs 4 „Einberufung in das Bes- 
serungshaus“ zu, verpflichtet aber bei einer Einbe- 
rufung über 14 Tage zur alsbaldigen Mitteilung 
an die Staatsbehörde. Soweit der oben erwähnte 
37
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.