88 Politik
Subjektionsvertrag. Besonders der
Vertragsgedanke wird mehr und mehr das Zen-
trum für die juristische Konstruktion des Staats-
zustandes.
5 7. Abschließender Charakter der älteren
Politik bis zum 18. Jahrhundert. Abhängigkeit
vom Parteiprogramm und dogmatische Into-
leranz. Spaltung der metaphysischen und der
geschichtsphilosophischen Betrachtung. Die P
bewegt sich hiernach in einer Richtung, in der sie
sich immer mehr, besonders seit der Renaissance
mit einem geschichtlich-psychologischen Vorstel-
lungsschatz und mit einer juristischen Begriffs-
masse sättigt. Die spekulativ-philosophischen Idee#n-
werden durch sie vollständig überwuchert. Infolge-
dessen geben diese schon längst nicht mehr den
eigentlichen Richtpunkt für die politische Dar-
stellung. Es ist ein fundamentaler Irrtum, als
wenn der Gegensatz der individualistischen und
der überindividualistischen, autoritaristischen Auf-
fassung die staatlichen Dinge „bis in die speziell-
sten Fragen der Politik hinein verzweigt“ völlig
beherrsche (Radbruch, Einf. in die Rechtswissensch.-,
1913, S 16). Den Kern aller Schriften der poli-
tischen Literatur, sei es der systematischen, sei es
der mehr gelegenheitsmäßigen, essayistischen, bil-
det vielmehr immer unverhohlener die Beobach-
tung der gegebenen realpolitischen
Lage und die Vorstellung von den
Bedürfnissen, die nach der Ueberzeugung
des einzelnen Denkers und Schriftstellers die
wünschenswerte Gestaltung des Staatslebens,
besonders der staatlichen Verfassungsformen be-
stimmen. Um eine vollzogene Verfassungsände-
rung zu rechtfertigen oder um einen staatsrecht-
lichen Zustand für die Zukunft zu empfehlen,
werden die theologischen, metaphysischen, natur-
wissenschaftlichen, geschichtlichen, juristischen, psy-
chologischen, moralphilosophischen Elemente in
immer neuen Kombinationen ineinander — oft
nur nebeneinander — gefügt, und die bestim-
mende geistige Kraft ist nicht die Religions-, Welt-,
Moralanschauung des konstruierenden Denkers,
sondern sein mehr aktives oder mehr guietisti-
sches Lebens ideal, seine aristokratische oder
plebejische Herkunft, seine Zugehörigkeit zu den
Herrschenden oder den politisch Bedrückten, über-
haupt in jeder Hinsicht seine Parteistellung.
So kann es z. B. kommen, daß Marsilius von Padua
(1328) mit Hilse eines naturwissenschaftlich-empirischen,
antikirchlichen und religiös indifserenten Gedankenunter-
baus die Teilung der Regierung (pars principans) und der
Gesetzgebung und Kontrolle (legislatio und cCorrectio)
zwischen den Fürsten und den das Volk repräsentierenden
Ständen wesentlich in demselben Sinn als das Normal-
verhältnis der Verfassung konstruiert, wie die französischen
Calvinisten auf der Grundlage der Herrschaft Gottes über
Fürst und Volk (der Anonymus „Brutus“, Vindicinc contra
tFrannos 1579) und wie wiederum ähnlich, nur in etwas mo-
dernisierter Form John Locke (treatise of government
1620) mit Berufung auf ein vom Individnum vor und über
dem Staat entwickeltes Vernunftrecht. Marsilius geht so
vor, um das nationale Fürstentum gegen die internationale
Papstkirche, die „Monarchomachen", um den Glaubens-
kampf des hugenottischen Adels gegen die Unterdrückung des
absoluten Königtums, Locke, um die Revolntion des ari-
stokratischen Parlaments gegen Jakob II. zu rechtfertigen.
Andrerseits kann der Advokat Johannes Bodinus, Hugenott
schen Privatreligion, gerade umgekehrt der Verfechter der
absoluten, die Regierung und Gesetzgebung unbeengt von
den Ständen in sich konzentrierenden Königtums sein (1576).
Er findet seinen einflußreichsten Nachfolger als Recht-
fertiger dieses Ideals in dem ausgesprochenen Vertreter
der „#epikuräischen,“ religionslos-physikalischen Weltanschau-
ung des Thomas Hobbes (1642). Aber wiederum mit der
gleichen metaphysischen Konstruktion wie dieser, mit dem Dog-
ma eines Zusammenwirkens aller Individuen zur Erzeu-
gung einer alle Einzelrechte aufsaugenden volonté générale,
gelangt Rousseau (1764) zum Iveal seiner Volkssouver-
änität, einer unbeschränkten und in der Volksabstimmung un-
mittelbar wirksamen Demokratie.
Der Charakter der auf angeblich metaphysisch-
philosophischer Grundlage konstruierenden P. ent-
hüllt sich immer mehr als Willkür und Methode-
losigkeit. Die Staatsbilder, die die einzelnen
Schriftsteller als „besten Staat“ empfehlen, sind
„zuerst erlebt und werden erst hinter-
drein philosophisch gerechtfertigt“ (Jellinek). Sie
lehren ihre Notwendigkeit als eine allge-
meingültige. Hieran ändert es nichts,
daß bei vielen Denkern sich jetzt der historische Sinn,
d. h. die Aufmerksamkeit auf das besondere,
durch individuelle Art des Nationalcharakters, durch
geographische Lage, geschichtliche Schicksale bedingte
Wesen des konkreten Staatslebens und Staats-
rechts hoch entwickelt zeigt. Die mehr rationali-
stische odeer mehr empirisch-geschichtliche Betrach-
tungsweise äußert sich vielmehr nur in der ver-
schiedenen Art, wie die einzelnen Denker die
Staatsformen der Geschichte ihrer beherrschenden
Vernunftidee unterordnen. Die primitivere, aus
Antike und Scholastik überkommene Methode
leitet das Programm des besten Staats aus ge-
wissen apriorischen Axiomen über seelische Anlage
und sittlich-kosmische Bestimmung des Menschen-
geschlechts ab, wobei die geschichtlichen Staats-
bilder wie bei Aristoteles nur als mehr oder minder
unvollkommene, untereinander unabhängige Ver-
suche der Verwirklichung des Staatsideals, als
Beispiele für einzelne Ausflüsse dieses Ideals er-
scheinen. So gehen Thomas von Aquino, Marsi-
lus, die calvinistisch-monarchomachischen Denker,
so auch Hobbes, Spinoza vor, ohne daß dabei
die mehr idealistische oder mehr naturalistische
Grundstimmung eine Rolle spielte. Die verfei-
nerte Form der Synthese dagegen strebt an, die
historischen Verfassungen als die Glieder einer
fortlaufenden Kette, eines großen Entwicklungs-
gangs im Sinn eines einzigen zeitlichen Ablaufs
zu ordnen, sei es als eine einzige aufsteigende
Entwicklung zu einer größeren Vollkommenheit,
sei es als einen Kreislauf von Aufstieg, Blüte und
Verfall, der sich in typischer Wiederkehr bei den
verschiedenen Völkern oder innerhalb eines Volks
erneuert. Diese, in der Antike nur ganz am
Schluß in Polybius (Rehm, Geschichte der Staats-
rechtswissenschaft, 1899, § 34) tastend auftretende,
geschichtsphilosopyhische Konstruktion des
Staatslebens liegt schon in der Grundanschau-
ung des Christentums, wonach ja kraft göttlicher
Bestimmung die Menschheitsgeschichte eine fort-
schreitende Erziehung zum Gottesreiche darstellt.
Ihre bewußte Ausbildung ist die Frucht der Re-
naissance und ihres durch Vergleichen von antiker
und neuerer Kultur erweiterten Gesichtskreises. In
Macchiavelli werden die Grundlinien eines
wie der „Bruts“-Autor, sogar Anhänger einer spiritisti-= naturgesetzlichen Systems sichtbar, nach dem die