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Politik
Diesem Streben dient die Untersuchung der Bedingungen
des staatlichen rganismus (kirst principles of government,
origin of government, essay 4. 5), des Wechselverhältnisses
zwischen den Menschen, Staatsmännern oder Volk und den
staatlichen Einrichtungen („politics a science“, „national
characters“ ess. 3. 21), den Voraussetzungen und der Be-
deutung der verschiedenen Versfassungsformen,
speziell in den englischen Verhältnissen (#liberty and despo-
tism“, „Absolute Monarchy or Republic,“ ess. 12. 7),
der Grundlagen und Bedeutung politischer Parteien, speziell
der englischen („Parties in General“, „Parties of Great
Britain“ ess. 8. 9), der Zusammenhang der Parteipro-
gramme mit den realen Verhältnissen (.„original contract“,
„assive obedlience“, „protestant succession,“ II, 12.
13. 14). Alles wird dargelegt, um verständlich zu machen,
daß die Zeit für einen Zusammenschluß der „gemäßig-
ten Elemente“ jeder Partei gekommen ist („Coalition
#of parties“ II, 14) und für die Verwirklichung der „idca of
a perfect commonwealth“ (II, 160. Aber diese letztere ist für
Hume keineswegs die Ivce des „besten Staats“ im alten
Einn eines allgemeingültigen Iveals, sondern das Projiekt
der zeitgemäßen Weiterbildung der historisch gewordenen
englischen Verfassung im Sinn eines konservativen Fort-
schritts (mäßige Erweiterung des Wahlrechts, Abschwächung
der erblichen Peerswürde zum lebenslängli-
chen Sitz im OCberhaus usw.), also für die mit den geschicht-
lichen Verhältnissen vereinbare, augen blicklich und
relativ beste Verfassung. Daß unter andern Ver-
hältnissen andere Verfassungen gleiche Existenzberechtigung
haben, erkennt er an. Er rühmt z. B. beredt dic geistige
Blüte Frankreichs unter dem monarchischen Absolutismus,
diagnostiziert aber seine Schäden im Wirtschaftsleben. Wie
also der Uebergang von der alten zur neuen Politik wis.
senschaftlich darin besteht, daß die dogmatische Meta-
physik grundsätzlich abgestoßen und die Erklärung und Kritik
der Staatsgebilde ausschließlich auf eine durch geschichtliche
Beobachtung befruchtete empirische Psychologie gegründet
wird, so zeigt die neue Lehre realpolitisch ihr Wesen
darin, daß sie den Bürger wie den leitenden Staatsmann
und Gesetzgeber nicht in der Verfolgung und Durchsetzung
eines einseitigen Parteiprogrammes un-
terweist, sondern in der Aufsindung eines über allen, tat-
sächlich vorhandenen Parteien stehenden Standpunktes
und in der Ausbildung einer staatlichen Rechtsordnung, die
möglichst jeder Portei wie zugleich dem Interesse
des Ganzen Genüge tut. Hiermit aber deutet Humes
Lehre in merkwürdiger Weise den Fortgang des englischen
Staats. und Parteilebens voraus. Denn tatsächlich nimmt
dieses seit etwa 1750 unter dem Einfluß Pitt-Chathams,
Edmund Burkes, besonders dann unter dem des jüngeren
Pitt den Charakter an, den es bis ca. 1900 rein, teilweise
noch jetzt bewahrt hat: jede der zwei großen Parteien
orientiert sich mit ihren wechselnden Programmen fort-
dauernd nach der Haltung der andern.
5 9. Anobildung der modernen „Rritisch-un-
parteiischen“ Politik.
a) Neue Bedingungen der wis-
senschaftlichen Erkenntnis. Humes
Betrachtungsweise hat in England keinen direkten
Fortsetzer gefunden. Ebensowenig läßt sie einen
unmittelbaren Einfluß auf die Literatur des
Festlands erkennen. Aber der Gedankenkreis,
der ihr zugrunde liegt, gewinnt allmählich an
Ausbreitung. In den erkenntnistheoretischen
Ausgangspunkten wurde durch Kants kriti-
sche Philosophie erst in anfechtungsfreier Weise
verständlich gemacht, daß und warum die aus der
Vernunft geschöpften Ideen der älteren Meta-
physik aus den wissenschaftlichen Betrachtungen
der Erfahrungswelt, hinausgewiesen werden müs-
sen, daß sie hier mindestens nur selbst als ein
Objekt der Betrachtung, als augenblickliche
Ideale der handelnden und strebenden Menschen-
gruppen, als Triebfedern und Richtschnur ihres
Handelns Interesse beanspruchen können. Unter
diesen Gesichtspunkten begann sich die moderne
Geschichtswissenschaft umzuformen. Ent-
sprechend wurden unter Kantischem Einflusse die
Anfänge der modernen Rechtswissenschaft
sichtbar, ebenfalls mit dem Leitmotiv, die Rechts-
normen einer gesellschaftlichen Gruppe nicht aus
allgemeingültigen natürlichen Verhältnissen ab-
zuleiten, sondern als Niederschlag des „Volks-
geistes“ eines Zeitalters zu verstehen, richtiger
ausgedrückt, als das, was nach dem Empfinden der
aktiven und im Volksleben maßgebenden Schich-
ten für ihre gegenseitige Rücksichtnahme im sozialen
Zusammenleben dafür gelten solle,
und was die Organe des Staates als unentbehr-
lichsten Bestand dieser sozialen Ordnung vor-
schreiben oder durchführen. Aus alledem ergab sich
auch für das Staatsrecht, sowohl für die Verfas-
sung des Staats wie für das rechtliche Verhältnis
des Staats zu seinen Bürgern, die Auffassung als
die allein mögliche, daß in ihnen die Kräfte des
ganzen Volkes und deren Zusammenfassung im
gemeinsamen Interesse mit den sonder-
strebenden Kräften der Einzelgruppen und Ein-
zelindividuen, der beharrenden und der vor-
wärtsstrebenden, in ein Verhältnis wechselseitiger
Duldung gebracht werden, wie es der augenblick-
lichen Verteilung des Bildungs-, Kapital-, Wehr-,
Arbeitsvermögens entspricht und deren Verwer-
tung am besten fördert.
b) Praktische Bestätigung der
neuen Lehre. Diese fundamentale Einsicht
wurde aber in ihrer Bedeutung gerade für das
politische Leben durch die französische Re-
volution einleuchtend gemacht, mit ihren
über ganz Europa fortwirkenden Folgen.
Den Kern der Kräfte, die in dieser singulären Erscheinung
siegreich wurden, bildete die Idee, einen großen, bis vor
kurzem den mächtigsten europäischen Staat, mit allen seinen
geschichtlich gewordenen Einrichtungen und Grundsätzen
gänzlich abzubrechen und an seine Stelle einen neuen
nach pbilosophisch ersonnenem Plane aufzubauen — ein
Versuch, der dadurch möglich wurde, daß alle Organe des
Staats und alle Schichten der Nation, Regierung und
Beamtentum, Adel, Klerus, Bürgertum und Beamten-
stand von dem sesten Glauben an die mehr oder minder
klar erfaßten Gedanken der Philosophie der naturrechtlichen
Aufklärungslehre (5 7 #. E.) erfaßt worden waren, an den
Staatsvertrag, die Freiheits= und Menschenrechte der ein-
zelnen als Richtschnur für die Ausgabe des Staats, die
Volkssouveränität und die Teilung der Gewalten in dem
Einn, daß die Regierung der Gesetzgebung untergeordnet
ist. Die Folge dieses massenpfuchologischen Phänomens
aber war die Auflösung des französischen Staates überhaupt,
eine beispiellose Anarchie, eine unerhörte Verhetzung der
Volksklassen gegeneinander, aus der nur um den Preis
ungeheurer Zerstörungen von Menschenleben und des
Ruins der bisher herrschenden, zu einem großen Teil sehr
tüchtigen Elemente des Adels und Beamtentums und indi-
vidueller Güter und mit brutaler Gewalt der Weg zurück zu
neuer fester Ordnung und zu einer notdürftigen Wieder-
anknüpfung an die historischen Zustände des alten Frank-
reich gesunden werden konnte. Dahingestellt, ob und in-
wieweit die Revolution für das reale Staatsleben