Politik
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der movernen Zeit Früchte getragen hat, — zweisellos! tischen Betrachtung nicht die Allgemeingültigkeit
bat sie für die Staatslehre die Bedeutung, daß sie
den Mißerfolg, ja die Existenzunmöglichkeit eines doktrinär
konstruierten Staats und damit den Bankcrott aller älteren
Staatslehren bewies.
Gleichwohl waren die Doktrinen der politischen Philo-
sophie in den Gemütern des Zeitalters so zäh eingewurzelt,
daß trotz dieser Erfahrungen und auch nach dem Vorüber-
gaehen der Revolution, ihrer Kriege, der Erhebung und
Niederwerfung Napoleons, die extremen Lehren sich wieder
Goltung zu verschaffen suchten, sowohl in Frankreich wie
außerhalb dessen, besonders auch in Deutschland. Hier äu-
ßerte sich die Doktrin der Revolution, des einseitigen Judi-
vidualismus seit 1816 in den Schriften Karls von Rotteck,
die dem gemäßigten und radikalen Liberalismus besonders
Süddeutschlands und des Rheinlandes zum Ausgangs-
punkt dienten. Die Doktrin der „Restauration“, der ein-
seitigen Betonung der gottgesetzten Staatsautorität trat
ihr gleichzeitig in dem Werke Carl Ludwig von Hallers
gegenuber, aus dem in der Folgezeit die Anfänge des alt-
preußischen Konservatismus schöpften („Politisches Wochen-
blatt“- 1831). Damit mündeten die der augenblicklichen
Situation entspringenden doktrinären Gelegenheitsschriften
in die zuvor erwähnten geschichtaphilosophischen und so-
ziologischen Staatskonstruktionen der gleichzeitigen speku-
lativen Philosophie ein.
c) Dahlmann, Ranke, Tocque-
ville. Diese höchste Steigerung einer Staats-
lehrec, die mit großem doktrinären Apparat nur
einseitigen parteipolitischen Programmen dient
und sich doch mit offenkundigen Fortschritten
der wissenschaftlichen Kritik und mit cindrucks-
vollen Erfahrungen der Realpolitik in Widerspruch
setzte, verhalf der unscheinbareren, aber wissenschaft-
lich wertvolleren politischen Betrachtungsweise,
die in der Literatur längst vorgebildet war, end-
gultig zum Durchbruch.
Sie führte sich zunächst in Einzelversuchen ein, schwebende
Verfassungsstreitigkeiten unabhängig von philosophischer
Begründung aus der historischen Eigenart und Tradition
einer Lanpschaft zu lösen, so besonders in den Vorschlägen,
die Friedrich Christoph Dahlmann in Kiel im Konflikt des
Königs von Dänemark mit der schleswigischen Ritterschaft
für das Steuerbewilligungsrecht der Landstände erhob
(„Ein Wort über Verfassung“, 1815).
Zum Programm erhob eine derartige P. der
junge Berliner Historiker Leopold Ranke
in der Gründung einer „historisch-politischen Zeit-
schrift“ (1832, nur in 2 Bdn. bis 1836 fortgeführt).
Sie sollte laut der Vorrede „das Wichtigste um-
fassen, was ein denkender Zeitgenosse zu erfahren
wünschen kann, um seine Zeit nicht nach irgend-
einem Begriff, sondern in ihrer Realität zu ver-
stehen.“ Sie sollte brechen das Uebergewicht „der
politischen Doktrinen, die die reale Welt nach ihren
Schulmeinungen einzurichten streben“. In den
ersten Aufsätzen „über die Restauration in Frank-
reich“ und „Frankreich und Deutschland“ wies er
nach, daß der Gegensatz von Revolution und Re-
stauration im Nachbarlande aus ganz spezifischen
französischen Voraussetzungen entsprungen sei.
„Den echt-deutschen Staat haben wir auszubil-
den“ und für diese Aufgabe bedeutet der Kampf
zwischen Reaktion und Radikalismus „eine
Trennung, der man aus allen Kräften vermeiden
sollte erst das Daseyn zu geben“. Mit seinem Pro-
gramm kam also Ranke genau auf die gleichen Ge-
danken zurück, die für Hume bestimmend gewesen
waren. Auch für ihn ist Ausgangspunkt der poli-
der politischen Einrichtungen für alle Staaten,
sondern ihre Verschiedenheit je nach der historisch
gewordenen Eigenart des Volkes, und auch für
Ranke ist das Ziel eine Versöhnung der philoso-
phisch inspirierten, einseitigen und unduldsamen
politischen Programme zugunsten einer vor-
urteilslosen und kritischen Erwägung derjenigen
politischen Regelung, die den Bedürfnissen der
Zeit und des Volkes angemessen und deren Reali-
sierung möglich ist. Mit diesen Gedanken ist die
moderne, wissenschaftliche Poli-
tik festgelegt. Sie stellt sich im Gegensatz
zur älteren P. als eine eigenartige Spezial-
wissenschaft dar, die sich streng dem Kreis
der Erfahrungswissenschaften, und zwar der So-
zialwissenschaften im weiteren Sinn einordnet.
Genau in gleichem Sinn wird 1835 in Frankreich
von Alexis de Tocqueville die Kritik der
heimischen Einrichtungen durch den Vergleich mit
Nordamerika gegen die revolutionären Doktrinen
unternommen („Deémocratie en Amcrique“).
Auch für ihn ist es der Hauptgedanke jeder frucht-
baren P., daß die Bedeutung eines Rechtsprin-
zips — in diesem Fall die der Demokratie und
ihres Gleichheitsideals — nur nach Maßgabe der
höchst konkreten Verhältnisse einer Gesellschaft
abgeschätzt werden könne, und daß sie deohalb in
der Union, wo sie dank der weitgehenden Selbst-
verwaltung der Gemeinden, Kreise, Einzelstaaten
mit starker Freiheit kombiniert sei, etwas ganz
anderes bedeute als in Frankreich eine „Gleich-
heit ohne Freiheit“. Im gleichen Jahre (1835)
wurde dieser Gedanke von Dahlmann in
seiner „Politik, auf den Grund und
das Maß der gegebenen Zustände
zurückgeführt“, zum ersten Male zum Aus-
bau einer — leider unvollendet gebliebenen —
systematischen Darstellung verwen-
et.
d) Beschränkte Ausbreitung der
wissenschaftlichen Politik und
Rückfälle in die dogmatische Ge-
schichtsphilosophie. Auf der so ge-
wonnenen Grundlage hat sich die Spezialwissen-
schaft der P. weiter entwickelt, zunächst unter dem
Einfluß der Historiker, Rankes Schüler Georg
Waitz, Dahlmanns Schüler Heinrich von
Treitschke, nur sehr allmählich und ver-
einzelt unter dem der Juristen, unter denen mit
als erster Joh. Caspar Bluntschli sich in
halb popularisierendem Sinn mit den Problemen
der „Politik als Wissenschaft“ befaßt. Die Be-
handlung blieb freilich auf lange hinaus wesentlich
in essayistischer Form auf Einzelfragen beschränkt,
ohne in der Systematik Fortschritte zu machen.
Der Grund für die verzögerte und dürftige Fort-
entwicklung der neuen Wissenschaft lag darin, daß
gleichzeitig in allen Kulturländern die ge-
schichtsphilosophische Betrachtung des
Staatslebens einen noch nie erlebten Aufschwung
nahm.
In erster Linie in Deutschland, dessen geistige Arbeit
unter dem Fortwirken Montesquieus und Rousscaus (17 a. E.)
durch Herder auf mehr als ein Jahrhundert ganz mit
dem Drang erfüllt worden war, die Geschichte der Mensch-
heit in ihrer Totalität als einen unendlichen Ablauf der
Entwicklung großer Kulturideen zu erfassen. In dem weit-
angelegten Sosteme Hegels erhielten diese Konstruktions-