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versuche am Anfang des 19. Jahrh. eine zusammenfassende
Verarbeitung, die dem Staat eine alle Kulturarbeit,
auch die geistige Arbeit der Natur beherrschende und kon-
zentrierende Stellung anwies, und sofort wirkten diese
Lehren auf französische Denker, vor allem auf die phantasti-
sche Welterneucrungstheorie des Grafen St. Simon zurück.
Bon hier hat die lange, im Verlauf auch auf England sich
erstreckende Reihe gedankenreicher Geschichtsphilosophen
oder „Soziologen“ ihren Ausgang genommen, die bald
das eine, bald das andere Element des Hegelianismus oder
des St. Simonismus herauskehrend irgend eine Form des
Zusammenlebens der Menschheit als das schließliche Ziel
der Entwicklung „bewies“, dem sich alle historischen For-
men als Vorstufen oder zu überwindende Hindernisse unter-
ordneten. In Wahrheit enthüllt sich jedes der „Gesetze“,
das die Entwicklung angeblich beberrscht, als ein dem
Gemütsbedürfnis, den Zukunftoewünschen des Denkers
entsprungenes Dogma, und mochte als Ziel der ECnt-
wicklung die Herrschaft der Wissenschaft, vor allem der
Naturwissenschaft, dargestellt werden (August Comte,
Ludwig Feuerbach), oder die des kommerziellen und in-
dustriellen Bürgertums (Herbert Spencer) oder die Herr-
schaft des Arbeiterproletariats (Karl Marx), mochte endlich
gar aus aristokratisch-pessimistischer Stimmung heraus die
Entwicklung als ein allmahlicher Rückschritt, als ein Sich-
ausleben einer mit körperlicher und geistig-ästhetischer
Kapazität ausgestatteten Herren., Edel-Rasse in den Massen
eines sich immer mehr ausbreitenden Völkerchaos von
plebejischen Herden= oder Sklavenmenschen aufgefaßt
werden (Graf Gobineau), — alle diese angeblich aus der
Zusammenstellung der Einzeltatsachen sich „von selbst“
ergebenden Entwicklungen find gewaltsam von oben her,
von dem Denker, in sie hineingetragene Schemata meta-
physischer Iveen — in keinem andern Einn als das älteste
von allem, das unentwegt aus dem Mittelalter bis in
die Moderne weitervererbt wird, die scholastisch-thomistische
Idee der allmählichen Entwicklung der Menschheit zur
organisierten Christenheit, zum kosmopolitischen Priester-
staat ( 60. Es sind Zukunftsprogramme, die regelmäßig
auch in den Dienst einer einseitigen Interessengruppe
gestellt und als Parteiprogramme verwendet werden.
Diese in immer erneuten Formen sich einbürgernden
Versuche, den Gesamtverlauf der menschlichen Kultur und
des Staatslebens als eines unlöslichen Bestandteils der
Kultur unter einem beherrschenden Gesichtspunkt anzu-
schauen, haben die jugendliche Svezial wissenschaft der
P. nachhaltig in ihrer Entfaltung gehemmt. Unter den er-
gebnislosen Zwistigkeiten, die zwischen den Systemen unter
hochtönenden Schlagworten geführt wurden, ist die müh-
samere, viel nüchternere Aufgabe, die einzelnen Rechts-
formen des Staatslebens in ihrem wechfselseitigen Zu-
sammenhang und im Zusammenhang mit den Charakter-
eigenschaften und sozialen Strukturen der Nation zu analy-
sieren und zu beobachten und die Staatsge füge der ver-
schiedenen Nationen miteinander zu vergleichen immer wie-
der vernachlässigt worden. Ja, es ist noch nicht einmal in
weite Kreise die Erkenntnis eingedrungen, daß man es in
der volitischen Geschichtsphilosophie und in der Spezial-
wissenschaft der P. mit zweierlei grundsätzlich verschiedenen
Betrachtungsweisen zu tun hat. Die Grenze zwischen ihnen
ist nicht immer leicht zu zirhen. Denn beide schöpfen ihren
Beobachtungostoff vorwiegend aus der Geschichte,
und wenn auch die geschichtsphilosophische Konstruktion sich
siets als ein seitig- parteitendenziös erwie-
sen hat, die wissenschaftliche P. Humes, Rankes, Dahlmanns
mit der Prätension der prinzipiellen „Unpartoeilichleit“ auf-
trat (58, &9 a, ch, so läßt sich doch gar nicht leugnen, daß auch
die letztere keineswegs darauf verzichten wollte, aus ihren
Aufstellungen Konsequenzen für das Leben des realen
Politik
Staats, insbesondere für eine bestimmte parteimäßige Ge-
staltung des Staates zu ziehen.
ee)Endgültige Herausbildung
der Leitgedanken einer moder-
nen Bürgerpädagogik und Ver-
fassungskritik. Trotz allem ist die Exi-
stenz einer von modernen Prinzipien ge-
tragenen politischen Wissenschaft eigener Art in
ihren Anfängen als gesichert zu betrachten. Sie
steht den gesamten älteren Versuchen, das Staats-
leben zu systematisieren, als die kritische P. der
dogmatischen gegenüber. Ihre Eigenart liegt
in dem veränderten Interessengesichts-
punkte, unter dem sie, dem veränderten phi-
losophisch-methodischen Ausgangspunkt (& 9b)
folgend, das staatliche Leben auf seine Zusammen-
hänge prüfen will. Während die ältere P.
in der Gesamtheit der historischen Erscheinungen
das möglichst gemeinsame, nämlich gewisse
oberste polit. Forderungen an Volk oder Verfas-
sung (J) mit räumlich und zeitlich unbegrenzter Gel-
tung abzuleiten strebte, sucht die moderne P. ge-
rade die Verschiedenheit der möglichen poli-
tischen Gestaltungen ins Auge zu fassen und ihre
verschiedenen Ursachen und Folgen aufzudecken.
Während die ältere Staatslehre ausgespro-
chen oder verhüllt immer einem bestimmten so-
zialen Interesse (der Kirche, der Krone, einer Be-
völkerungsgruppe) zu nützen strebte, will die
moderne Staatslehre gerade im Gegenteil
möglichst alle im Staatsleben vereinigten In-
teressen beleuchten und für sie — in diesem
Sinn „unparteiisch“ — einen gemeinsamen
modus vivendi finden helfen. Insofern solche
planmäßige Normierung des Verhältnisses
kollidierender Interessenten den Kern der Ge-
rechtigkeitsidee und die oberste Funktion
alles Rechts ausmacht, wird gerade in der mo-
dernen P. die Bedentung des WMissenschafts-
zweigs als vergleichender Verfassungskritik, über-
haupt als Hilfswissenschaft der Rechts-
wissenschaft, deutlicher sichtbar, der zuneh-
mende Einfluß der juristischen neben den
historischen Schriftstellern innerlich verständlich.
Und insofern das gleichmäßige Ueberschauen= und
Berücksichtigenkönnen der verschiedenen
politischen Bedürfnisse den Inhalt der
politischen „Bildung“ ausmacht, tritt auch die
zweite Funktion der P. als einer Lehre st aats-
bürgerlicher Erziehung mehr ins
Licht. Hiermit trifft zusammen, daß in den letzten
Jahren die Forderung nach intensiverer Pflege
solcher Erziehung, besonders der angehenden
Staatsbürger, stärker erhoben wird.
Umso wichtiger wird es — angesichts der ver-
änderten Ziele der P. — deren hauptsächliche
Probleme auch im Speziellen mit annähernder
Greifbarkeit abzustecken (§& 10—12.
*# 10. Politische Soziallehre und pollitische
Rechtslehre. Erst wenn man ins Auge faßt,
welche Verschiebung die Hauptaufgabe
die wissenschaftliche P. im Uebergang zur neuesten
Zeit erlebt hat, kann man die einzelnen Stoff-
und Gedankenkreise abgrenzen, die es innerhalb
dieser Spezialmissenschaft zu vereinigen gilt, und
sich darüber Rechenschaft ablegen, was aus der
älteren Staatslehre übernommen werden kann.
Hierbei ist ein Doppeltes zu vermeiden. Die
Nachwirkung der älteren Literatur begründet