Politik 95
Beariffe wird also nur die Vorfrage für die Beurteilung
des Werts der konkreten staatlichen Bildungen.
Ebenso steht es mit den Fragen der Staatsorgani-
sation. Es kann bereits von Interesse sein, die von den
geltenden Verfassungen begründete Machtverteilung zwi-
schen den staatlichen Organen — fürstlichem oder prä-
sidentschaftlichem Staatshaupt, Ministerium, Cber= und
Unterhaus des Parlaments —, oder zwischen den verschie-
denen staatlichen Berbänden — Gesamtstaat, Gliedstaat,
Provinz, Kreis, Gemeinde — festzustellen und die ver-
schiedenen denkbaren Erscheinungsformen, in denen diese
Institute auftreten können, in ihrer juristischen Eigenart zu
bestimmen. Aber auch diese Fragen sind nur Vorfragen
für die Hauptfrage, wie jede dieser Organisationssormen
innerhalb des konkreten Staatslebens der bestimmten Nation
wirkt, und damit wird das Eingehen auf die Zusammen-
hänge der verschiedenen Glieder einer Verfassung unter-
einander und vor allem auf die Zusammenhänge der Rechts-
in stitute mit dem Volkscharakter, der sozialen, geographischen
Gliederung des Volkes, der auswärtigen und inneren Auf-
gaben, die dem Staat im Gegensatz zu anderen gesteckt sind,
unerlaßlich. Es wird z. B. die verschiedene rechtliche Macht-
verteilung, die in einer Revublik zwischen dem Präsidenten
und der Volksvertretung besteht, insbesondere der über-
wiegende Einfluß des einen oder anderen auf das Minister-
kabinett erst dann von rechtem Interesse, wenn man erwägt,
daß die Ministerernennung durch den Präsidenten einc viel
größere Macht bedeutet in einem Staat, der von einer
gzentralisierten Staatsbeamtenschaft verwaltet wird (Frank-
reich), als in einem Staat, in welchem die Burcaukratie des
Gesamtstaates einen verhälltnismäßig beschränkten Funk-
tionenkreis ausübt und durch eine bedeutende Eelbstver-
waltung von Gliedstaaten, Kreisen (Grasschaften) und Ge-
meinden eingeengt ist (Nordamerika). Kommt noch hinzu,
daß, wie in den genannten beiden Fällen, im einen Staat
cine starke und geschlossene Berufsarmee der Regierung zur
Berfügung steht, im anderen nicht, daß im einen Staat die
aus der Gesellschaft hervorgehende Crganisation der Be-
völkerung (die politische Parteiorganisation und das Par-
teilrben im Volk) schwach, im anderen lebhaft entwickelt
ist, so kann hieraus, aber auch erst aus dem Zusammenhalt
aller dieser rechtlichen und sozialen Verschiedenbeit eine Er-
klärung dafür gewonnen werden, warum z. B. das moderne
Frankreich die früher (1818) vorhandenen Ansätze zu einer
Präsidentschaftsgewalt nach nordameritanischer Art wieder
beseitigt hat und vor solcher auch zurzeit zurückscheut. —
In entsprechender Weise läßt sich die rechtliche Stellung des
Ministerkabinetts gegenüber dem Parlament nicht nur aus
sormalen Rechten, etwa der Geschäftsordnung, bestimmen,
z. B. der Verfügung über die Worterteilung, das Recht zum
willkürlichen Schluß der Diskussion (C(loture, Ciosure), der
Bevorzugung der Regierung in der Einbringung von Ge
senvorschlägen vor den Mitgliedern des Parlaments selbst.
Bielmehr gewinnt das englische Kabinett im Vergleich mit
dem von der Parlamentemajorität stark abhängigen fran-
zosischen Kabinett seine Ueberlegenheit über die ihm er-
gebene (herrschende) Unterhaus- Fraktion — abgesehen von
ienen Rechten — erst dadurch, daß ihm in der sest zentrali-
sierten Parteiorganisation im Lande ein Machtfaktor zur
Ver fügung steht, den es gegen die Fraktion als Rücken-
dockung verwenden kann. Und wenn andererseits in den
deutschen Einzelstaaten das Ministerium, im Reich der Reichs-
kan zler (1l, kraft anerkannten Rechtssatzes seine Regierungs-
gewalt auf die Krone und auf die eigenartig korporations-
ähnlich sich selbst ergänzenden Klassen der oberen Burcau-
kratie, weder auf Parlament noch auf Wählerschaft stützt,
so wird dieser Rechissatz wiederum nicht in seiner Iso-
liertheit verständlich, sondern erst in Wechselwirkung mit
der anderen rechtlichen Gestaltung, daß der Hege-
moniestaat Preußen ebenfalls mit einer machtvollen parla-
mentarischen Körperschaft, dem preußischen Abgcordneten-
haus, arbeitet, die dem Reichstag (#] in Zusammensetzung
und Interessen vielfach fremdartig gegenübersteht, und daß
zwei verschledenartige Ministerien sich wechselseitig läh-
men müßten, wenn sie von diesen beiden Parlamenten
abhängig wären und nicht im Träger der Krone einen für
das Reich und für Preußen glcichen dirigierenden Willen
fänden. Ferner aber ist auch für die deutsche Verfassungs-
form die soziale Schichtung der Bevölkerung nicht weg-
zudenken, die mit ihren fünf großen Parteien zu fort-
während neuen Maioritätsgruppierungen führt und des-
halb eine bleibende Majorität (wie in Frankreich) nicht
einmal in der Volksvertretung als Grundlage der Regie-
rung ermöglichen kann.
§5 12. Politik als Staatslehre und Politik als
Unterweisung in der Staatskunst. Immerhin
hat der — an sich unbegründete — Versuch, eine
schärfere Trennung von „Staatslehre“ und „Po-
litik“ herbeizuführen, den bleibenden Erfolg gezei-
tigt, daß die P., während sie ihr Untersuchungs-
gebiet nach der einen Seite erweitern muß, nach
einer andern Seite endgültig in ihren Stoff
eingeschränkt worden ist. Die Zurück-
haltung gegen die P. im engern Sinn entsprang
dem berechtigten Bedürfnis, aus der wissenschaft-
lich-politischen Untersuchung die bloßen Erwä-
gungen der „Staatskunst“, die „Tages-Politik“,
auszuscheiden. Die gesamte ältere Literatur —
oft gerade die der am meisten empirischen Denker
(Aristoteles, Macchiavelli), zum Teil auch die
neuere (Treitschke) — durchflicht ihre Lehre mit
Instruktionen an den leitenden Staatsmann für
die Zweckmäßigkeit seiner Regierung oder
Verwaltung, Ratschläge für deren Popu-
larität, Sparsamkeit, Sicherheit gegen den Ehr-
geiz der Minister oder Rivalen, Chancen einer
kriegerischen oder friedlichen Annexions= oder
Kolonisationspolitik. Betrachtungen wie diese ge-
hören in der Tat aus prinzipiellen Gründen nicht
in eine wissenschaftliche Disziplin, einfach deshalb,
weil sie sich nicht auf allgemeine Grundsätze zu-
rückführen lassen. Denn die Willensentschließun-
gen des Augenblicks, die die laufenden Bedürf-
nisse des Staatslebens, der Militär-, Finanz-,
Verkehrs-, Sicherheitsverwaltung zu befriedigen
bestimmt sind, entspringen aus unausgesetzt
wechselnden Situationen. Sie sind in den alltäg-
lichen Erscheinungen Ausübung eines Handwerks.
In ihren wichtigen Acußerungen fordern sie die
durch Regeln nicht bestimmbare schöpferische Phan-
tasie des Staatemanns zur Bewältigung der gerade
jetzt bestehenden Lage. Die P. als Wissenschaft
kann ihr Absehen also nur auf die Schilderung
und Beurteilung der dauernden Zustände
des Staatslebens richten, auf die in längeren
Zeiträumen bleibende Eigenart der Gesellschafts-
und der Rechtsformen einer staatsbildenden Na-
tion. Sie entwickelt das Gesetzmäßige,
Wiederkehrende und deshalb durch Re-
geln bestimmbare auf diesem Gebiet.
Allerdings hat man vielfach auch der Entwicklung des
Gesellschafts= und Verfassungslebens jede Gesetzmäßigkeit ab-
sprechen wollen. Auch innerhalb dieser Entwicklung sei jeder
dauernde volitische Zustand nur eine einzigartige Kombi-
nation, die sich in dieser Weise niemals wiederhole. Kon-
sequent würde dann der P. als selbständiger, sy stemati-
scher Wissenschaft (loben zu Anfang) vie Eristen3zberechtigung
entzogen sein. Sie würde sich in der politischen Geschichte