176
Preußen (A. Verfassungsgeschichte — B. Behördenorganisation)
als bundesstaatliche Einrichtung der Einwirkung
des Einzelstaates entrückt worden. v
Endlich gaben die Beschlüsse des Vatikanischen
Konzils Anlaß zu einer Nachprüfung des Verhält-
nisses von Staat und Kirche. Die Grundsätze
der belgischen Kirchenfreiheit erwiesen sich im
paritätischen Staate als unhaltbar. Indem man
durch Verf Novelle v. 18. 6. 75 schließlich die a 15,
16 und 18 der VUl mit ihren unklaren Bestimmun-
gen aufhob, überließ man die Regelung des Ver-
hältnisses von Staat und Kirche künftig der
Sondergesetzgebung.
Die V1U selbst ist schließlich außerordentlich reich
an Verheißungen künftiger Gesetze, die diesen
oder jenen Gegenstand regeln sollen. Sie sind meist
noch heute unerfüllt. Die Verheißungen selbst
haben eine verschiedene Bedeutung. Vielfach
wollen sie nur das Gebiet der Gesetzgebung gegen
das der freien Regierung und Verwaltung ab-
grenzen. Andererseits soll das, was die VlI nur
andeutet, in der künftigen organischen Gesetz-
gebung weiter ausgebaut werden. Ein Teil der
Verheißungen ist gegenstandslos geworden durch
die Entwicklung des Reichsrechtes, das die be-
treffenden Gegenstände geregelt hat. Bei anderen
wie Unterrichtswesen und kirchl. Patronat [NI hat
die Schwierigkeit des Gegenstandes die verheißene
gesetzliche Regelung bisher verhindert. Daß die
Lücken in absehbarer Zeit ausgefüllt werden, ist
kaum zu erwarten.
#+# 7. Preußen und der Bundesstaat. Das ver-
fallende alte Reich und der deutsche Bund legten
der selbständigen Entwicklung des preußischen
Staates keine wesentlichen Beschränkungen auf,
das alte Reich nicht wegen seiner politischen Schwä-
che und der deutsche Bund nicht, weil er als Staa-
tenbund nicht selbst Staat, sondern nur ein
dauerndes Bundesverhältnis der deutschen Staa-
ten untereinander war. Dagegen ist der neue
Bundesstaat seit 1867, der Norddeutsche Bund und
seine Fortsetzung im Deutschen Reiche, selbst
Staat mit eigenen staatlichen Hoheitsrechten und
schränkt demgemäß die Staatsgewalt der Einzel-
staaten entsprechend ein.
Das Nebeneinander der beiden Staatsgewalten
macht sich aber weniger auf dem Gebiete der Ver-
fassung als auf dem der Verwaltung geltend.
Denn Bundesstaat wie Einzelstaat besitzen ihren
eigenen verfassungsmäßigen Organismus mit
eigenen Funktionen. In der Verwaltung greifen
dagegen die beiden Staatsgewalten unausgesetzt
ineinander über, so daß jeder für sich ein Torso
ist, erst beide in ihrer untrennbaren Verbindung
das ausmachen, was die moderne Kulturwelt
wvom Staate erwartet.
Wenn trotzdem erhebliche Teile der preußischen
VU durch die Entwicklung des Reichsrechts gegen-
standslos geworden sind, so handelt es sich dabei
fast nur um formelles VerfRecht, d. h. um Rechts-
normen, die zwar in die VlU. ausgenommen wa-
ren, aber materiell Verwäecht enthielten, wie
namentlich die Bestimmungen der Grundrechte.
Der verfassungsmäßige Organismus des preußi-
sschen Staates ist durch die Entstehung des Bundes-
staates so gut wie gar nicht berührt worden.
Was endlich P. an Umfang der Staatsgewalt
zugunsten des Reiches verloren hat, das hat es
auf der anderen Seite wieder gewonnen durch
iseine erhebliche Beteiligung im verfassungsmäßi-
een Organismus des Reiches. Denn nicht nur hat
. als größter Staat einen schwerwiegenden Ein-
fluß im Bundesrate, sondern die deutsche Kaiser-
würde (/I] ist untrennbar mit dem preußischen
Königtume verschmolzen.
Literatur: Bornhak, Preußische Staats= und
Rechtsgeschichte, 1903; Statistisches Jahrbuch für den
preußischen Staat, 1911, herausgegeben vom Kal Statistischen
Landesamte, 1912; v. Rönne, Bd. 1—4, 1881—84,
Bd. 5 (Recht der Kommunalverbände) herausgeg. von
Schön, 1897, 5. Aufl. herausgeg. von Zorn, Bd. 1
1899; Bd. 2, 1906; H. Schulze, Das preußische Staats-
recht auf Grundlage des deutschen Staatsrechts, 2 Bänder,
1888/90; Bornhak, 3 Bände't, 1911 ff; Triepel,
Quellensammlung zum Staats-, Verwaltungs- und Bölker-
rechte, davon Bd. 4: Schücking, P., 1906; Binding,
Deutsche Staatsgrundgesetze in diplomatisch genauem Ab-
druck, davon Heft 4: P.“, 1908; erläuterte Ausgaben der
preußischen VBu von Rönne:, 1852; Schwartz', 1898;
Arndt', 1911; Anschütz 1, 1912. Boruhalt.
B. Vehördenorganisation
4# 1. Geschichtliche Entwicklung. 2. Die Gemeinde.
#* 3. Der Kreis. 4 4. Der Regierungsbezirk. ## 4. Die
Provinz. 1 5. Die oberste Verwaltung.
## . Geschichtliche Entwicklung. Die Behörden-
organisation des modernen Staates ist das Ergeb-
nis des Eindringens eines berufsmäßigen, juri-
stisch gebildeten Beamtentums und damit eine
Begleiterscheinung der Rezeption der fremden
Rechte. Sie beginnt nach dem Vorbilde des Reichs-
kammergerichtes in den oberen Gerichten, setzt sich
fort in den Domänenbehörden und Konsistorien
und ergreift endlich die allgemeine Landesver-
waltung. Vorbildlich waren dafür die Organi-
sationen Kaiser Maximilians I., die niederlän-
dische, aus Frankreich übernommene Einrichtungen
auf das Reich und die österreichischen Erblande
übertrugen. So erfolgt in Brandenburg 1604 die
Begründung des Geheimen Rates im Gegensatz
zu den Ständen als den geborenen Räten des
Landesherrn.
Die weitere Organisation ist in der Zeit des
großen Kurfürsten das Mittel der Gesamtstaatsbil-
dung aus vereinzelten Gebieten von der Memel
bis zur Maas durch die Verwaltung im Gegen-
satze zur Verfassung sowohl des Reiches wie der
territorialen Stände. Seit 1651 werden mit der
Verpachtung der Domänen und dem Uebergang
von der Natural= zur Geldwirtschaft in den ein-
zelnen Gebieten kollegiale Amtskammern für die
Domänen und Regalien und später eine Ge-
heime Hofkammer für den Gesamtstaat begrün-
det. Die Kommissariate, Militärintendanturen,
für die einzelnen Gebiete, und ein Generalkriegs-
kommissariat für den Gesamtstaat, reißen allmäh-
lich die gesamte Steuerverwaltung, einen Zweig
der inneren Verwaltung nach dem anderen und
eine entsprechende Attributivjustiz an sich und be-
schränken damit die vielfach mit den Obergerichten
verbundenen alten Landesregierungen auf Lehns-,
Hoheits- und Gnadensachen. Nach Durchführung