Full text: Wörterbuch des Deutschen Staats- und Verwaltungsrechts. Dritter Band. O bis Z. (3)

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Preußen (A. Verfassungsgeschichte — B. Behördenorganisation) 
  
als bundesstaatliche Einrichtung der Einwirkung 
des Einzelstaates entrückt worden. v 
Endlich gaben die Beschlüsse des Vatikanischen 
Konzils Anlaß zu einer Nachprüfung des Verhält- 
nisses von Staat und Kirche. Die Grundsätze 
der belgischen Kirchenfreiheit erwiesen sich im 
paritätischen Staate als unhaltbar. Indem man 
durch Verf Novelle v. 18. 6. 75 schließlich die a 15, 
16 und 18 der VUl mit ihren unklaren Bestimmun- 
gen aufhob, überließ man die Regelung des Ver- 
hältnisses von Staat und Kirche künftig der 
Sondergesetzgebung. 
Die V1U selbst ist schließlich außerordentlich reich 
an Verheißungen künftiger Gesetze, die diesen 
oder jenen Gegenstand regeln sollen. Sie sind meist 
noch heute unerfüllt. Die Verheißungen selbst 
haben eine verschiedene Bedeutung. Vielfach 
wollen sie nur das Gebiet der Gesetzgebung gegen 
das der freien Regierung und Verwaltung ab- 
grenzen. Andererseits soll das, was die VlI nur 
andeutet, in der künftigen organischen Gesetz- 
gebung weiter ausgebaut werden. Ein Teil der 
Verheißungen ist gegenstandslos geworden durch 
die Entwicklung des Reichsrechtes, das die be- 
treffenden Gegenstände geregelt hat. Bei anderen 
wie Unterrichtswesen und kirchl. Patronat [NI hat 
die Schwierigkeit des Gegenstandes die verheißene 
gesetzliche Regelung bisher verhindert. Daß die 
Lücken in absehbarer Zeit ausgefüllt werden, ist 
kaum zu erwarten. 
#+# 7. Preußen und der Bundesstaat. Das ver- 
fallende alte Reich und der deutsche Bund legten 
der selbständigen Entwicklung des preußischen 
Staates keine wesentlichen Beschränkungen auf, 
das alte Reich nicht wegen seiner politischen Schwä- 
che und der deutsche Bund nicht, weil er als Staa- 
tenbund nicht selbst Staat, sondern nur ein 
dauerndes Bundesverhältnis der deutschen Staa- 
ten untereinander war. Dagegen ist der neue 
Bundesstaat seit 1867, der Norddeutsche Bund und 
seine Fortsetzung im Deutschen Reiche, selbst 
Staat mit eigenen staatlichen Hoheitsrechten und 
schränkt demgemäß die Staatsgewalt der Einzel- 
staaten entsprechend ein. 
Das Nebeneinander der beiden Staatsgewalten 
macht sich aber weniger auf dem Gebiete der Ver- 
fassung als auf dem der Verwaltung geltend. 
Denn Bundesstaat wie Einzelstaat besitzen ihren 
eigenen verfassungsmäßigen Organismus mit 
eigenen Funktionen. In der Verwaltung greifen 
dagegen die beiden Staatsgewalten unausgesetzt 
ineinander über, so daß jeder für sich ein Torso 
ist, erst beide in ihrer untrennbaren Verbindung 
das ausmachen, was die moderne Kulturwelt 
wvom Staate erwartet. 
Wenn trotzdem erhebliche Teile der preußischen 
VU durch die Entwicklung des Reichsrechts gegen- 
standslos geworden sind, so handelt es sich dabei 
fast nur um formelles VerfRecht, d. h. um Rechts- 
normen, die zwar in die VlU. ausgenommen wa- 
ren, aber materiell Verwäecht enthielten, wie 
namentlich die Bestimmungen der Grundrechte. 
Der verfassungsmäßige Organismus des preußi- 
sschen Staates ist durch die Entstehung des Bundes- 
staates so gut wie gar nicht berührt worden. 
Was endlich P. an Umfang der Staatsgewalt 
zugunsten des Reiches verloren hat, das hat es 
auf der anderen Seite wieder gewonnen durch 
iseine erhebliche Beteiligung im verfassungsmäßi- 
  
een Organismus des Reiches. Denn nicht nur hat 
. als größter Staat einen schwerwiegenden Ein- 
fluß im Bundesrate, sondern die deutsche Kaiser- 
würde (/I] ist untrennbar mit dem preußischen 
Königtume verschmolzen. 
Literatur: Bornhak, Preußische Staats= und 
Rechtsgeschichte, 1903; Statistisches Jahrbuch für den 
preußischen Staat, 1911, herausgegeben vom Kal Statistischen 
Landesamte, 1912; v. Rönne, Bd. 1—4, 1881—84, 
Bd. 5 (Recht der Kommunalverbände) herausgeg. von 
Schön, 1897, 5. Aufl. herausgeg. von Zorn, Bd. 1 
1899; Bd. 2, 1906; H. Schulze, Das preußische Staats- 
recht auf Grundlage des deutschen Staatsrechts, 2 Bänder, 
1888/90; Bornhak, 3 Bände't, 1911 ff; Triepel, 
Quellensammlung zum Staats-, Verwaltungs- und Bölker- 
rechte, davon Bd. 4: Schücking, P., 1906; Binding, 
Deutsche Staatsgrundgesetze in diplomatisch genauem Ab- 
druck, davon Heft 4: P.“, 1908; erläuterte Ausgaben der 
preußischen VBu von Rönne:, 1852; Schwartz', 1898; 
Arndt', 1911; Anschütz 1, 1912. Boruhalt. 
B. Vehördenorganisation 
4# 1. Geschichtliche Entwicklung. 2. Die Gemeinde. 
#* 3. Der Kreis. 4 4. Der Regierungsbezirk. ## 4. Die 
Provinz. 1 5. Die oberste Verwaltung. 
## . Geschichtliche Entwicklung. Die Behörden- 
organisation des modernen Staates ist das Ergeb- 
nis des Eindringens eines berufsmäßigen, juri- 
stisch gebildeten Beamtentums und damit eine 
Begleiterscheinung der Rezeption der fremden 
Rechte. Sie beginnt nach dem Vorbilde des Reichs- 
kammergerichtes in den oberen Gerichten, setzt sich 
fort in den Domänenbehörden und Konsistorien 
und ergreift endlich die allgemeine Landesver- 
waltung. Vorbildlich waren dafür die Organi- 
sationen Kaiser Maximilians I., die niederlän- 
dische, aus Frankreich übernommene Einrichtungen 
auf das Reich und die österreichischen Erblande 
übertrugen. So erfolgt in Brandenburg 1604 die 
Begründung des Geheimen Rates im Gegensatz 
zu den Ständen als den geborenen Räten des 
Landesherrn. 
Die weitere Organisation ist in der Zeit des 
großen Kurfürsten das Mittel der Gesamtstaatsbil- 
dung aus vereinzelten Gebieten von der Memel 
bis zur Maas durch die Verwaltung im Gegen- 
satze zur Verfassung sowohl des Reiches wie der 
territorialen Stände. Seit 1651 werden mit der 
Verpachtung der Domänen und dem Uebergang 
von der Natural= zur Geldwirtschaft in den ein- 
zelnen Gebieten kollegiale Amtskammern für die 
Domänen und Regalien und später eine Ge- 
heime Hofkammer für den Gesamtstaat begrün- 
det. Die Kommissariate, Militärintendanturen, 
für die einzelnen Gebiete, und ein Generalkriegs- 
kommissariat für den Gesamtstaat, reißen allmäh- 
lich die gesamte Steuerverwaltung, einen Zweig 
der inneren Verwaltung nach dem anderen und 
eine entsprechende Attributivjustiz an sich und be- 
schränken damit die vielfach mit den Obergerichten 
verbundenen alten Landesregierungen auf Lehns-, 
Hoheits- und Gnadensachen. Nach Durchführung
	        
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