— — — — ·— — — —! ——. —„„Û —
296
Religionsgesellschaften (A. Christliche)
für das kanonische Recht als Ketzerei straf-
rechtlichen Charakter. Auf diesem Standpunkt
steht das byzantinische, das fränkische, das mittel-
alterliche deutsche Recht (besonders Friedrich II;
Zorn, Kirchenrecht, S 30, 53, 116), zuletzt die
Carolina. Der Syllabus Pius' IX. hält den
Grundsatz für die heutigen Verhältnisse noch
fest (Satz 15, 21). 4
2. Auch die Reformation hat das Prinzip zu-
nächst nicht erschüttert. Ueber die Entwicklung
des Kirchenstaatsrechts auf Grund der Refor-
mation # Evangelische Kirche. Für den Begriff
R. war noch kein Raum. Praeter religiones
supra nominatas nulla alia recipiatur vel tole-
retur (Westfäl. Friede a VII § 2). Daran wird
in den deutschen Territorien durchweg festgehal-
ten. Noch das Toleranzpatent Josefs II. (1781)
kennt keinerlei Duldung für R. außerhalb der
katholischen und protestantischen Kirche; Spezial-
verordnungen Josefs wenden sich höchst charak-
teristisch gegen die Sekten (Zorn 171), die Zuge-
hörigkeit zu einzelnen wird mit Prügelstrafe
bedroht. Entsprechende Grundsätze wurden in
den anderen Staaten gehandhabt. Wenn zwar
Friedrich der Große persönlich die vollste Reli-
gionsfreiheit vertrat und dieser Ueberzeugung
oft und lebhaft Ausdruck gab, war doch seine Zeit
noch nicht reif für eine gesetzliche Feststel-
lung dieser Grundsätze. Nur die Gleichberechti-
gung der katholischen Kirche führte Friedrich II.
staatsrechtlich durch, und darin lag schon ein ge-
waltiger Fortschritt für seine Zeit (Zorn 174).
3. Eine religionsrechtliche Sonderstellung be-
haupteten nur die Juden (vgl. unten B).
§& 2. Heutige Grundsätze (Hinschius bei Mar-
quardsen 1 1, 226 ff; Zorn 5& 13).
1. Die äußere und innere Entwicklung des
deutschen Staatslebens im 19. Jahrhundert
führte zur Anerkennung der vollen Reli-
gionsfreiheit. Die Unabhängigkeit der bür-
gerlichen und staatsbürgerlichen Rechte vom Re-
ligionsbekenntnis ist seit dem Gv. 3. 7. 69 reichs-
rechtlich gesichert; vollständige Gewissens= und
Kultusfreiheit (J, selbstverständlich unter der
Souveränität des Staates und im Rahmen der
Staatsordnung, verbürgen alle im 19. Jahr-
hundert ergangenen Verfassungen. Diese grund-
sätzliche Frage bildete auch einen Hauptpunkt
der politischen Kämpfe von 1848 (RV v. 28.
3. 49 a V FKF 144—151). Die erste gesetzge-
berische Formulierung dieser Grundsätze enthält
das die bezüglichen Gedanken Friedrichs des
Großen gesetzlich fixierende A#LR II, 11 (Zorn
177). Ihm folgten in mehr oder minder verschie-
dener Ausdrucksweise die Verfassungen des
19. Jahrhunderts, so die bayerische (Tit. IV 9P)
und preußische (a 12 ff). Das Prinzip der Reli-
gionsfreiheit bildet den absoluten Gegensatz gegen
die hierokratischen Prinzipien des kanonischen
Rechts; aber ausgeschlossen ist dadurch auch die
territorialistisch-iosefinische Auffassung des Ver-
hältnisses von Staat und Kirche, in welcher kein
Raum blieb für den Gedanken der Selbständig-
keit der Kirche; ausgeschlossen ist dadurch endlich
jene unklare Idee des „christlichen Staates“, welche
anknüpfend an die heilige Allianz ein Staatskir-
chenrecht auf der Grundlage allgemein christli-
cher Anschauung unter Abstraktion von jeder kon-
fessionellen Besonderheit darstellen zu können
vermeinte. Als äußere juristische Grundlage ist
das christliche Bekenntnis für den Staat nicht
formulierbar es sei denn in konfessioneller Form;
as letztere aber ist für die deutschen Zustände ein
überwundener Standpunkt, was natürlich nicht
ausschließt, daß die christliche Gesamtanschauung
des deutschen Volkes die treibende Kraft des Volks-
und Staatslebens ist.
2. Der Grundsatz der Religionefreiheit schließt
die Selbständigkeit der Kirche ein
(Hinschius 247 ff). Dies ist in einzelnen Vü, so
in der preußischen, zu positivem Ausdruck gekom-
men. Diese Selbständigkeit der Kirche ist nicht
etwa diejenige Freiheit der Kirche, die vom kano-
nischen Recht für die katholische Kirche gefordert
wird und die an Stelle der staatlichen die kirchliche
Souveränität setzt, sondern sie hat die Souveräni-
tät des Staates zur notwendigen und selbstver-
ständlichen Voraussetzung. Nichts im Staate ist
von der obersten Gewalt des Staates frei (quid-
duid est in territorio, est etiam de territorio),
mit dem einzigen Vorbehalte der sog. Exterri-
torialität (I. Keine Kirche oder R. ist jedoch
exterritorial. Daraus folgt, daß der Staat kraft
seiner Souveränität das Oberaufsichtsrecht (in
der älteren Terminologie: jus circa sacra mit
der Gliederung: ius reformandi, ius advocatiane,
ius inspiciendi) über alle Kirchen und R. in
seinem Gebiete hat (ALR II6 54; II 11 J8832, 33;
Kirchenhoheit). Daß dieses Aufsichtsrecht über
die Kirchen nur wie über gewöhnliche Vereine,
daß es ferner über alle R. in gleicher Weise aus-
zuüben sei und jede Besonderheit nach dieser
Richtung verwerfliches „Ausnahmerecht" darstelle,
sind doktrinäre Verirrungen, welche die Bewe-
gung von 1848 stark beeinflußten, heute aber
überwunden sind. Die Aufsicht des Staates über
die R. richtet sich nach den besonderen Verhält-
nissen der einzelnen R., muß also z. B. gesetzlich
anders gestaltet sein für die katholische Kirche
als für die Irvingianer.
3. Die wichtigsten sondergesetzlichen
Folgerungen aus der Religions-
freiheit sind die nachstehenden:
a) Die Bildung von Religions-
gesellschaften ist grundsätzlich frei, vorbe-
haltlich gewisser formeller Vorschriften, welche in
den Staaten verschieden geordnet sind (Thudichum
1, 126); natürlich bezieht sich diese Freiheit nur
auf solche R., welche sich im Rahmen der Staats-
gesetzgebung bewegen und erlaubte Zwecke ver-
folgen. Bayern und Sachsen fordern besondere
Staatsgenehmigung (bayer. Rel.Ed. s 26 ff;
sächs. G v. 20. 6. 70 5 21).
b) Demgemäß steht es dem einzelnen Staats-
angehörigen völlig frei, ob er überhaupt einer (und
welcher) R. angehören will; von Staats wegen
wird nach dieser Richtung keinerlei Zwang mehr
ausgeübt. Die neueren Gesetzgebungen regeln
durchweg, wenn auch verschieden, die Formen des
Austrittes aus der Kirche (A. B.
Schmidt, Austritt aus der Kirche, 1893). Die
religiöse Erziehung X) der Kinder be-
stimmt sich in erster Linie nach dem Willen der
Eltern; eine selbständige Entscheidung wird dem
Kinde von einer bestimmten Altersgrenze ab
(annus discretionis, in Preußen nach Ad###,
Sachsen, Württemberg, Hessen vollendetes 14.,
in Baden 16. Lebensjahr, in Bayern Volljährig-