Full text: Wörterbuch des Deutschen Staats- und Verwaltungsrechts. Dritter Band. O bis Z. (3)

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Selbstverwaltung (A. Wesen der Selbstverwaltung) 
  
zu erteilen. Dem pouvoir municipal soll die Orts- 
polizei, die ihm das Pluviosegesetz genommen 
hatte, zurückgegeben werden. Auch diese Orts- 
polizei, ausgehend von der Gemeinde, stehe unter 
der surveillance der Regierung. Die Reformen 
des Bürgerkönigtums, die mit dem Jahre 1831 
anheben, gewähren nur teilweise das, was Henrion 
de Pansey u. a. verlangt hatten. Aber damals 
wurde die Rechtstechnik der Dezentrali- 
sation und Staatsaufsicht über die 
Kommune geschaffen, welche noch heutigen 
Tags in Frankreich und beinahe allen Ländern des 
europäischen Kontinents (Preußen) maßgebend 
ist. Der nächste Schritt in derselben Richtung er- 
folgte erst in Gesetzen der liberalen Epoche des 
2. Kaisertums (von 1866 und 1867) und der 3. 
Republik (von 1871 und 1884; Lugay, La Deé- 
Centralisation, 1895, 73 A). Jetzt war es das 
Problem, der Gemeinde einen großen Teil von 
Verwükten zur eigenen Entscheidung zu über- 
weisen, während der Rest vom Präfekten zu ge- 
nehmigen war, ferner die Frage, ob nicht eine 
„translation de la tutelle Communale“ von dem 
Präfekten an die Generalräte durchführbar wäre. 
In dieser Zeit der Dezentralisationsbestrebungen 
entstand außer den Mitteln der Staatsaufsicht 
(Beanstandung, Bestätigung, Zwangsetatisierung, 
Supplierung des Willens widerstrebender Kom- 
munalorgane durch den Willen der Staatsaufsicht) 
die Anschauung, die dann auch in Deutschland und 
besonders in Preußen Eingang fand, daß die 
Staatsaufsicht über Kommunen teilweise 
auch durch einen oder mehrere Staatsbe- 
amte in Verbindung mit gewähl- 
ten Staatsbürgern des betreffenden 
höheren Verw Bezirks besorgt werden könnte. Das 
ist die Lehre der Dezentralisation der Verwaltung 
durch Heranziehung von Interessenten, wie sie 
z. B. heute der preußische Bezirksausschuß betätigt. 
3. Die dritte Wurzel der modernen Selbst Verw. 
— Gneists Lehre vom englischen Self- 
government — will die Abkehr Deutschlands 
von dem französischen Vorbild durch Hinweis auf 
das englische Selfgovernment herbeiführen. Das 
letztere ist ihm der notwendige „Zwischenbau zwi- 
schen Staat und Gesellschaft". Die englische 
Selbst Verw ist „innere Landesverwaltung der 
Kreise und Ortsgemeinden nach den Gesetzen des 
Landes durch persönliche Ehrenämter unter Auf- 
bringung der Kosten durch kommunale Grund- 
steuer.“ Besteht diese Selbst Verw in der Verwal- 
tung von Kommunalämtern, so heißt sie „wirt- 
schaftliche“, ist sie Verwaltung von Ehrenämtern 
soheißt sie „obrigkeitliche“ Selbst Verw. Man 
ann diese Unterscheidung nur verstehen, wenn 
man sich Gneists Ansicht von dem Verfall Englands 
durch Heranziehung und Beteiligung vom Volke 
gewählter Boards (Kollegien) an den Aufgaben 
der Staatsverwaltung vergegenwärtigt. Denn 
dann werde alles durch diese Boards nach Art von 
Aufsichtsräten der Aktiengesellschaften — also wirt- 
schaftlich und egoistisch — ausgeführt. Höheren 
Wert habe dagegen nur die obrigkeitliche Selbst- 
Verw, welche in ihrer Tätigkeit nicht nur Aus- 
Übung von Rechten, sondern Erfüllung von 
mitunter schweren Pflichten sei. Sie stehe 
nicht, wie die durch die gewählten Boards geübte, 
im Gegensatz zur Staatsverwaltung, sondern sei 
ebenfalls Staatsverwaltung. Der einzige Gegen- 
  
  
satz der obrigkeitlichen Selbst Verw sei nicht — wie 
die konstitutionelle Doktrin annahm — die Staats- 
verwaltung, sondern die „Ministerverwaltung“. 
Gneists Darstellung des englischen Selfgovern- 
ment war wegen der Betonung des Pflichtmo- 
ments für Staatsbürger und Gemeinden in der 
Betätigung der Selbst Verw, wegen der Hervor- 
hebung des Satzes, daß Selbst Verw Staatsver- 
waltung nur „nach Maßgabe der Gesetze" sei, 
also nur im Zusammenhange mit der Ausbildung 
von Rechtsstaat und VerwGerichtsbarkeit wirksam 
bestehen könnte, von bleibendem Ein- 
flusse auf die Gestaltung der preußi- 
chen Verwaltungsorganisation 
seit der KrO von 1872 geworden. 
4. Die vierte Wurzel ist die Lehre von der 
Genossenschaftshierarchie als Mittel 
zur Zurückdrängung der Bureaukratie. Einer der 
ersten Vertreter dieser Anschauung ist der Freiherr 
vom Stein (Max Lehmann, Frhr. v. Stein, 1, 406; 
2, 65 ff, und Anschütz, V f. d. preuß. St., 1912, 
1. 4 ff). Schon in der Nassauer Denkschrift will 
er die Bureaukratie und den „Mietlingsgeist“ be- 
soldeter Diener durch eine umfassende Heran- 
ziehung von Elementen aus dem nichtbeamteten 
Volke zurückdrängen. Die Volksbeteiligung soll 
in gewählten Repräsentanten zum Ausdruck kom- 
men, und zwar als Hierarchie von Repräsentanten- 
versammlungen: Gemeindevertretung, Kreistag, 
Provinziallandtag. In dem sog. „„ppolitischen 
Testament"“ fordert er als Krönung dieses Baues 
eine „allgemeine Nationalrepräsentation“. 
Die Anschauung, daß auf der Grundlage der 
freien Gemeinde die Volksvertretung ausfgebaut 
werden müßte, um das Volk zur Selbstregierung 
zu erziehen, finden wir auch in der Art, wie ein 
Mitarbeiter Steins, Vincke, die innere Verwaltung 
Großbritanniens ansieht. Auf dem Unterbau der 
friedensrichterlichen Tätigkeit erhebt sich das 
Parlament als „diejenige Behörde, welche 
das große Ganze der Verwaltung leitet“. (Dar- 
stellung der inneren Verwaltung Großbritanniens, 
1815, 94.) Auch sonst wird in der staatsrechtlichen. 
Literatur Deutschlands der 20er und 30er Jahre 
des 19. Jahrhunderts jener Zusammenhang zwi- 
schen Einführung von Landständen und Reorgani- 
sation der Gemeinden nachdrücklich hervorgehoben. 
(S. z. B. W. v. Humboldt's Verfassungsideen bei 
Paul Lenel, W. v. H. und die Anfänge der preuß. 
Verfassung 1913, S. 113; ferner Malchus, Politik 
der inneren Staatsverwaltung, 1823, 151; Reich- 
hard, Historisch-politische Ansichten über die Staats- 
verfassungen in Deutschland, 1830, 138 ff; Bü- 
low, Die Behörden in Staat und Gemeinde, 
1836, 304 ff.) 
Der Gedanke, daß die freie Gemeindeverwal- 
tung ihre notwendige Fortsetzung in einer Na- 
tionalrepräsentation finden müsse, war von großer 
politischer Kraft und Tragweite. Er half Preußen 
aus einer absoluten Monarchie ein konstitutioneller 
Staat werden. Auf ihn beriefen sich 1864 die 
Männer, wie N. A. Miljutin u. a., welche Alexan- 
der II. von Rußland bei Einrichtung der Selbst- 
Verw des Semstwo berieten, aber auch Gegner 
des Liberalismus, wie Katkow (Witte, Samoder-- 
schawvie i Semstwo, 1908, 66 ff). Auf ihn wiesen 
die Männer hin, welche in Preußen die Reform 
der inneren Verwaltung und besonders der Kreis- 
ordnung aus dem Zusammenhang mit der kon-
	        
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