422
Selbstverwaltung (A. Wesen der Selhstverwaltung)
am besten gesichert, so in Deutschland, insbeson-
dere in Preußen. Die Lehre vom pouvoir muni-
oipal in Verbindung mit den andern (oben unter I)
dargelegten Wurzeln des Selbst Verw Begriffs ha-
ben dazu beigetragen.
IV. Selbst Verw und Demokratie sollte man für
unzertrennliche Verbündete halten, schon deshalb,
weil nur durch die Ueberwälzung einer größeren
Zahl von Staatsfunktionen auf die Selbst Verw-
Körper jener Idealtypus der Demokratie möglich
wird, der das Berufsbeamtentum zugunsten der
durch Volkswahlen bestellten Beamten in den
Hintergrund drängt. In Wirklichkeit sieht aber
die Sache anders aus. Die meisten Demokratien
der Gegenwart kennen nur eine sehr beschränkte
Selbst Verw der Kommunalverbände. Nur in den
deutschen Kantonen der Schweiz findet sich
als Folgen des ehemaligen Gedeihens der Land-
gemeinde eine weitgehende Autonomie (Schollen-
berger, Schweizerisches Verwrecht 1, 331). In
den übrigen Kantonen, besonders in den welschen,
ferner in den Süd= und Zentralameri-
kanischen Republiken, ist die Selbst-
Verw, weil nach französisch-napoleonischem Vor-
bild aufgebaut, ebenso zugunsten der Zentralge-
walt eingeengt wie in der heutigen französischen
epublik. Nur die deutschen Kantone, die noch
das System der Dreiteilung Montesquieus erhal-
ten haben, haben eine der deutschen vergleichbare
Selbst Verw (Schoch in Bibliotheque des Congres
Internationaux. I. Section, Abhandlung 3, 2f f).
Weist sonach die unmittelbare Demokratie nicht
absolut das Bild jener vollkommenen Selbst Verw
auf, so ist dies natürlich noch weniger von der par-
lamentarischen Demokratie, wie sie Frank-
reich darstellt, zu erwarten. Sie hat ebenso wie
das parlamentarische Königtum kein Interesse an
einer ausgebildeten Selbst Verw. Aus zuver-
lässigen Zeugnissen (namentlich Berthélemy,
Schriften des Vereins für Sozialpolitik, Bd. 123)
gewinnen wir den Eindruck, daß trotz der Reform
der französischen Kommunalverwaltung durch das
Gesetz vom Jahre 1884 noch immer die Selbst-
Verw in Frankreich einer umfassenden Staats-
kontrolle (tutelle administrative) unterworfen ist.
Mitglieder der Stadtverwaltung, Bürgermeister, Bei-
siter (adjolnts) können ohne irgend welches Disziplinar-=
verfahren und ohne Verwmfrlage abgesetzt werden. Die
Zentralbehörde ist vollkommen in ihrem Ermessen frei:
„Ls sont entièrement discrétionnaires“ sagt Berthélemy.
Die einzelnen VerwpHandlungen der Selbst Verw, insbeson-
dere auf dem nach der Lehre vom pouvoir municipal der
Gemeinde ureigenen Gebiet der Ortspolizei, stehen unter
staatlicher Aufsicht. Die höhere VerwAufsichtsbehörde kann
ohne weiteres für die Selbst BerwBehörde eintreten, wo
eine bestimmte Aktion der Selbst Verw Behörde zur Pflicht
gemacht ist und sie diese versäumt. Das französische Recht
kennt außerdem nicht bloß eine Zwangsetatisierung, d. h.
hwangsweise Feststellung der Ausgaben im Etat (Inscription
d-'Oftice), sondern auch eine zwangsweise Einsetzung von
Steuern ins Budget (Iimposltions d’office).
Die repräsentative Demokratie, wie sie die
Vereinigten Staaten doarstellen, hat
eine ausgebildete Dreiteilung der Staatsgewalt,
über welche die amtlichen Gerichte wachen. Man
kann hier also zunächst eine ähnliche Entwicklung
der Selbst Verw wie in der konstitutionellen Mon-
archie erwarten. Aber auch in den Vereinigten
Staaten wurde zunächst nur das englische Vorbild
kopiert mit seinem System der Privat= und Lokal-
Akts, welche die Selbst Verw durch die Gesetz-
gebungsmaschine einschnüren. Erst in neuerer
Zeit sucht man auch hier ein Recht auf Selbst Verw
gegenüber der Legislatur durch ausdrückliche Ver-
fassungsbestimmung aufzurichten, eine ganz eigen-
artige Entwicklung, welche das Recht auf Selbst-
Verw gegenüber der Legislatur, nicht gegenüber
der Bureaukratie, schafft.
Man mißtraut der parteiischen Legislatur, nicht dem
Staalsbcamtentum. (Siche Goodnow, Municlpals, Home-
Rule 1906, ch. 5.) Daher sind noch in den größeren ameri-
kanischen Einzelstaaten starke Zentralisationstendenzen
wahrzunehmen, insofern als bestimmte Verw Zweige, welche
sonst landläufig auch nach unserer Auffassungsweise der
Selbst Verw zuzuweisen wären, von lokalen Staats-
behörden verwaltet werden. (Wilcox, Schriften des Bereins
für Sozialpolitik 123, 58 ff.) Pol Verwaltung wird im
engeren Sinne Staatsbehörden in der Stadt üÜbertra-
gen. Die Unterrichtspflege, die Berwaltung bes. lokaler
Stiftungen werden durch die Staatsbehörden betrieben, ja
selbst die Prüfung städtischer Beamter wird durch eine lokale
Staatsbehörde vorgenommen.
53. Die Lehrmeinungen. Es lassen sich folgende
Gruppen unterscheiden:
1. Gierke, Schaeffle und Gluth betrach-
ten die Selbst Verw als das Recht korporativer Ver-
bände auf selbständige Verwaltung ihrer eigenen
Angelegenheiten. Dieser Begriff hat eine zu enge
Fassung, weil den Selbst Verw Körpern häufig eine
ganze Reihe von Staatsaufgaben übertragen sind,
und der Unterschied zwischen dem eigenen und
übertragenen Wirkungskreisen weder in der neue-
fren Gesetzgebung (z. B. Preußens) noch in der
Praxis aufrecht zu erhalten ist.
2. Gneist und eine Reihe anderer, die ihm fol-
gen, verstehen unter Selbst Verw überhaupt keinen
Rechtsbegriff, sondern bloß ein politisches Prinzip
nämlich die Teilnahme der Staatsbürger an der
Führung der Verwaltung vermittels Ehrenämter.
Diese Auffassung ignoriert die ganze historische
Entwicklung des pouvoir municipal und der kor-
porativen Selbst Verw, die doch eine nicht weg-
zuleugnende Tatsache ist. Nach dieser Auffassung
müßte denn der Unterschied zwischen Dienstauf-
sicht und Kommunalaufsicht, die der Staatsbe-
hörde obliegt, für völlig überflüssig erklärt werden.
Es müßte ferner der Gegensatz zwischen statutari-
scher Satzung der Selbst VerwKörper und Ver-
ordnung ausgehoben werden. Ein Rechtsschutz
gegenüber der ungerechtfertigten Zwangsetati-
sierung, Beanstandung von Beschlüssen usw. wäre
vollständig überflüssig. Ueberall wo die Korpora-
tion in ihren Rechten verletzt würde, gäbe es nur
ein politisches Vakuum, keinen Rechtsschutz.
3. Demgegenüber hat Laband den Selbst-
Verwegriff dahin erweitert, daß er überhaupt
das Recht der korporativen Verbände auf die
selbsttätige Verwaltung derjenigen Angelegen-
heiten, die ihrer Natur nach in der Berücksichtigung
von Sonderinteressen zu besorgen sind, versteht.
Sehr nahe kommt diesem Begriffe der von Ro-
sin aufsgestellte Begriff der Selbst Verw, nur daß
er zu diesem juristischen noch einen politischen
Begriff der Selbst Verw hinzufügt; nach ihm ist
Selbst Verw entweder die korporative Selbst Verw,
das Recht der Korporation auf Selbst Verw im
Gegensatz zum Verwaltetwerden durch den Staat,
sodann gibt es eine politische Selbst Verw, d. i. die