Full text: Wörterbuch des Deutschen Staats- und Verwaltungsrechts. Dritter Band. O bis Z. (3)

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Selbstverwaltung (A. Wesen der Selhstverwaltung) 
  
am besten gesichert, so in Deutschland, insbeson- 
dere in Preußen. Die Lehre vom pouvoir muni- 
oipal in Verbindung mit den andern (oben unter I) 
dargelegten Wurzeln des Selbst Verw Begriffs ha- 
ben dazu beigetragen. 
IV. Selbst Verw und Demokratie sollte man für 
unzertrennliche Verbündete halten, schon deshalb, 
weil nur durch die Ueberwälzung einer größeren 
Zahl von Staatsfunktionen auf die Selbst Verw- 
Körper jener Idealtypus der Demokratie möglich 
wird, der das Berufsbeamtentum zugunsten der 
durch Volkswahlen bestellten Beamten in den 
Hintergrund drängt. In Wirklichkeit sieht aber 
die Sache anders aus. Die meisten Demokratien 
der Gegenwart kennen nur eine sehr beschränkte 
Selbst Verw der Kommunalverbände. Nur in den 
deutschen Kantonen der Schweiz findet sich 
als Folgen des ehemaligen Gedeihens der Land- 
gemeinde eine weitgehende Autonomie (Schollen- 
berger, Schweizerisches Verwrecht 1, 331). In 
den übrigen Kantonen, besonders in den welschen, 
ferner in den Süd= und Zentralameri- 
kanischen Republiken, ist die Selbst- 
Verw, weil nach französisch-napoleonischem Vor- 
bild aufgebaut, ebenso zugunsten der Zentralge- 
walt eingeengt wie in der heutigen französischen 
epublik. Nur die deutschen Kantone, die noch 
das System der Dreiteilung Montesquieus erhal- 
ten haben, haben eine der deutschen vergleichbare 
Selbst Verw (Schoch in Bibliotheque des Congres 
Internationaux. I. Section, Abhandlung 3, 2f f). 
Weist sonach die unmittelbare Demokratie nicht 
absolut das Bild jener vollkommenen Selbst Verw 
auf, so ist dies natürlich noch weniger von der par- 
lamentarischen Demokratie, wie sie Frank- 
reich darstellt, zu erwarten. Sie hat ebenso wie 
das parlamentarische Königtum kein Interesse an 
einer ausgebildeten Selbst Verw. Aus zuver- 
lässigen Zeugnissen (namentlich Berthélemy, 
Schriften des Vereins für Sozialpolitik, Bd. 123) 
gewinnen wir den Eindruck, daß trotz der Reform 
der französischen Kommunalverwaltung durch das 
Gesetz vom Jahre 1884 noch immer die Selbst- 
Verw in Frankreich einer umfassenden Staats- 
kontrolle (tutelle administrative) unterworfen ist. 
Mitglieder der Stadtverwaltung, Bürgermeister, Bei- 
siter (adjolnts) können ohne irgend welches Disziplinar-= 
verfahren und ohne Verwmfrlage abgesetzt werden. Die 
Zentralbehörde ist vollkommen in ihrem Ermessen frei: 
„Ls sont entièrement discrétionnaires“ sagt Berthélemy. 
Die einzelnen VerwpHandlungen der Selbst Verw, insbeson- 
dere auf dem nach der Lehre vom pouvoir municipal der 
Gemeinde ureigenen Gebiet der Ortspolizei, stehen unter 
staatlicher Aufsicht. Die höhere VerwAufsichtsbehörde kann 
ohne weiteres für die Selbst BerwBehörde eintreten, wo 
eine bestimmte Aktion der Selbst Verw Behörde zur Pflicht 
gemacht ist und sie diese versäumt. Das französische Recht 
kennt außerdem nicht bloß eine Zwangsetatisierung, d. h. 
hwangsweise Feststellung der Ausgaben im Etat (Inscription 
d-'Oftice), sondern auch eine zwangsweise Einsetzung von 
Steuern ins Budget (Iimposltions d’office). 
Die repräsentative Demokratie, wie sie die 
Vereinigten Staaten doarstellen, hat 
eine ausgebildete Dreiteilung der Staatsgewalt, 
über welche die amtlichen Gerichte wachen. Man 
kann hier also zunächst eine ähnliche Entwicklung 
der Selbst Verw wie in der konstitutionellen Mon- 
archie erwarten. Aber auch in den Vereinigten 
Staaten wurde zunächst nur das englische Vorbild 
  
kopiert mit seinem System der Privat= und Lokal- 
Akts, welche die Selbst Verw durch die Gesetz- 
gebungsmaschine einschnüren. Erst in neuerer 
Zeit sucht man auch hier ein Recht auf Selbst Verw 
gegenüber der Legislatur durch ausdrückliche Ver- 
fassungsbestimmung aufzurichten, eine ganz eigen- 
artige Entwicklung, welche das Recht auf Selbst- 
Verw gegenüber der Legislatur, nicht gegenüber 
der Bureaukratie, schafft. 
Man mißtraut der parteiischen Legislatur, nicht dem 
Staalsbcamtentum. (Siche Goodnow, Municlpals, Home- 
Rule 1906, ch. 5.) Daher sind noch in den größeren ameri- 
kanischen Einzelstaaten starke Zentralisationstendenzen 
wahrzunehmen, insofern als bestimmte Verw Zweige, welche 
sonst landläufig auch nach unserer Auffassungsweise der 
Selbst Verw zuzuweisen wären, von lokalen Staats- 
behörden verwaltet werden. (Wilcox, Schriften des Bereins 
für Sozialpolitik 123, 58 ff.) Pol Verwaltung wird im 
engeren Sinne Staatsbehörden in der Stadt üÜbertra- 
gen. Die Unterrichtspflege, die Berwaltung bes. lokaler 
Stiftungen werden durch die Staatsbehörden betrieben, ja 
selbst die Prüfung städtischer Beamter wird durch eine lokale 
Staatsbehörde vorgenommen. 
53. Die Lehrmeinungen. Es lassen sich folgende 
Gruppen unterscheiden: 
1. Gierke, Schaeffle und Gluth betrach- 
ten die Selbst Verw als das Recht korporativer Ver- 
bände auf selbständige Verwaltung ihrer eigenen 
Angelegenheiten. Dieser Begriff hat eine zu enge 
Fassung, weil den Selbst Verw Körpern häufig eine 
ganze Reihe von Staatsaufgaben übertragen sind, 
und der Unterschied zwischen dem eigenen und 
übertragenen Wirkungskreisen weder in der neue- 
fren Gesetzgebung (z. B. Preußens) noch in der 
Praxis aufrecht zu erhalten ist. 
2. Gneist und eine Reihe anderer, die ihm fol- 
gen, verstehen unter Selbst Verw überhaupt keinen 
Rechtsbegriff, sondern bloß ein politisches Prinzip 
nämlich die Teilnahme der Staatsbürger an der 
Führung der Verwaltung vermittels Ehrenämter. 
Diese Auffassung ignoriert die ganze historische 
Entwicklung des pouvoir municipal und der kor- 
porativen Selbst Verw, die doch eine nicht weg- 
zuleugnende Tatsache ist. Nach dieser Auffassung 
müßte denn der Unterschied zwischen Dienstauf- 
sicht und Kommunalaufsicht, die der Staatsbe- 
hörde obliegt, für völlig überflüssig erklärt werden. 
Es müßte ferner der Gegensatz zwischen statutari- 
scher Satzung der Selbst VerwKörper und Ver- 
ordnung ausgehoben werden. Ein Rechtsschutz 
gegenüber der ungerechtfertigten Zwangsetati- 
sierung, Beanstandung von Beschlüssen usw. wäre 
vollständig überflüssig. Ueberall wo die Korpora- 
tion in ihren Rechten verletzt würde, gäbe es nur 
ein politisches Vakuum, keinen Rechtsschutz. 
3. Demgegenüber hat Laband den Selbst- 
Verwegriff dahin erweitert, daß er überhaupt 
das Recht der korporativen Verbände auf die 
selbsttätige Verwaltung derjenigen Angelegen- 
heiten, die ihrer Natur nach in der Berücksichtigung 
von Sonderinteressen zu besorgen sind, versteht. 
Sehr nahe kommt diesem Begriffe der von Ro- 
sin aufsgestellte Begriff der Selbst Verw, nur daß 
er zu diesem juristischen noch einen politischen 
Begriff der Selbst Verw hinzufügt; nach ihm ist 
Selbst Verw entweder die korporative Selbst Verw, 
das Recht der Korporation auf Selbst Verw im 
Gegensatz zum Verwaltetwerden durch den Staat, 
sodann gibt es eine politische Selbst Verw, d. i. die
	        
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