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Staat und Staatswissenschaften
geht, Organe hat, die seinen Willen zum Aus-
druck bringen und daß deren Willenskundge-
bungen entweder Satzungen oder Rechtsge-
schäfte oder andere Rechtshandlungen sind. In
allen einzelnen Merkmalen aber dehnt sich der
Staat über das Vereinsschema hinaus, so daß
seine juristische Persönlichkeit einem ausgewach-
senen und deshalb für regelmäßig abgelegten
Gewande gleicht, von dem nur im Notfalle dann
und wann Gebrauch gemacht wird. Nirgends
unterliegt denn auch der St. im ganzen oder auch
nur im wesentlichen Teil seines Rechtslebens dem
von ihm selbst gegebenen positiven Vereinsrechte.
II. Der St. ist allerdings ein Personenver-
band, aber von ganz eigentümlicher Art.
Die Menschen, die in ihm zur Einheit zusammenge-
faßt sind, gehören ihm in wesentlich anderer Weise
an als einem Verein seine Mitglieder. Die recht-
liche Form dieser Zugehörigkeit ist eine verschieden
geartete in mannigfacher Hinsicht, vor allem ist
sie grundverschieden für Herrscher und Untertan.
1. Es ist ein höchster Wille, ein Herrsch er-
wille vorhanden, dem jeder andere Wille im St.
untertan ist. Der St. hat Herrschaft, einen Willen,
dessen Gebot anders bindet als die Aeußerungen
jedes andern vom Rechte anerkannten Willens im
St. Die Herrschaft ist höchster menschlicher Wille
(souverän), d. h. sie bestimmt sich ausschließ-
lich selbst, ist unteilbar und nicht verantwortlich im
Sinne des staatlichen Rechtes. Die Unteilbarkeit
ergibt sich aus der Einheit des St., die Unverant-
wortlichkeit aus dem Nichtvorhandensein eines
höheren Willens. Herrschaft ist dem St. wesent-
lich und ihm allein zu eigen. Ein St. ohne Herr-
schaft ist kein St., auch wenn er so bezeichnet
wird.
Der Herrscherwille ist menschlicher Wille.
Träger der Herrschaft sind Menschen, wirkliche,
physische Personen, nicht überirdische Gewalten
und auch nicht bloß gedachte Personen oder Mächte.
Auch der St. selbst ist nicht der Herrscher. Wohl
gehört die Herrschaft dem St. als Element des
Begriffes zu, sie ist ihm in dem Sinn zu eigen,
daß sie nur in bezug auf den St. bestehen kann.
Niemand hat die Herrschaft um seiner selbst willen;
nur um des St. willen ist sie da, aber dem Rechte
nach verbindet sie sich mit bestimmten, physischen
Personen. Sie gehört der Person nicht als Eigen-
tum, denn sie ist keine Sache und knüpft sich auch
an keine Sache, etwa an ein Vermögen, sondern
sie ist eine mit dem Staat gegebene, vom Rechte
anerkannte persönliche Willensmacht ohnegleichen.
Der Herrscher ist also Angehöriger des St.
durch die Innehabung der vom St. untrennbaren
Herrschaft. Die Willensmacht des Herrschers ist
nicht Wille über den Staat und auch nicht Wille
des St. selbst, der St. ist weder Objekt noch Sub-
jekt der Herrschaft, sondern die Herrschaft
ist persönlicher Wille des dem St.
als Personenverband angehörigen
menschlichen Trägers im St. Durch
die Ordnung des St. ist die Herrschaft ein Recht
des Herrschers.
2. In wesentlich anderer Weise gehören dem
gleichen Verbande die Untertanen an.
Durch ihre Vereinigung im St. sind sie unter
sich verbundene Glieder desselben Verbandes,
dem auf andere Weise auch der Herrscher ange-
hört und sie stehen durch den St. in Beziehung
zum Herrscher. Die Herrschaft ist eine Willens-
macht über sie. Dieses Verhältnis nun ist vor
allem ein Gehorsams= und Abhängigkeitsverhält-
nis, aber kein Unterwerfungsverhältnis. Auch
der Untertan ist Rechtspersönlichkeit, besitzt Rechts-
fähigkeit und kann die Freiheit, deren Mangel
ihn gleich dem Tier zur Sache herunterdrücken
würde, nie verlieren. Das Gehorsamsverhältnis,
in welches er durch seine St. Zugehörigkeit zum
Herrscher gelangt, ist ein rechtliches Verhältnis
von Person zu Person, aber es ist ohne weiteres
kein persönliches Dienstverhältnis; soll ein solches
entstehen, so bedarf es besonderer Begründung
durch Gesetz oder Rechtsgeschäft. Der Untertan
schuldet ohne besondere Anordnung dem Herrscher
keinen einzigen Dienst und keine einzige Sach-
leistung. Das Verhältnis zwischen Herrscher und
Untertan ist zunächst ein formales, inhaltloses
Abhängigkeitsverhältnis über und untergeord-
neten persönlichen Willens, beim Herrscher ist es
eine rechtliche Fähigkeit zum Gebieten, beim
Untertan eine rechtliche Bereitschaft zum Gehor-
chen. Das Recht erst normiert den Inhalt.
III. Bevor aber dieser Inhalt in persönlichen
Pflichten und Rechten ausgeprägt wird, bedarf es
einer Ordnung der Herrschaft selobst samt
näherer Bestimmung ihrer Beziehung zu den Un-
tertanen. Anders als durch das Recht kann auch
diese Ordnung und nähere Bestimmung nicht her-
gestellt werden. Die Ordnung der Herrschaft und
ihres Verhältnisses zur Untertanschaft ist die Ver-
fassung (#/1, sie ist das oberste Gesetz des St. und
der erste Willensakt des Herrschers. Indem er
sie gibt, stellt er die ferner nicht mehr lösbare
Verbindung von St. und Recht her und verwan-
delt damit die vorher etwa schon vorhandene tat-
sächliche Gewaltordnung in eine Rechtsordnung.
Das Verhältnis, welches durch die Verfassung
zwischen Herrscher und Untertan geschaffen wird,
ist ein rechtliches Verhältnis eigener Art und der
mannigfaltigsten Gestaltung fähig. [7X Verfassung!
Die Verfassung hat nicht nur die Gestaltung
dieses Verhältnisses zum Gegenstande, sondern
sie ist auch die Ordnung der Herrschaft selbst. Sie
bestimmt, wer Herrscher sei und wie die
Herrschaft auszuüben sei.
Die Geschichte lehrt an Tausenden von Fällen,
daß die Herrschaft tatsächlich nicht immer
von demjenigen besessen wird, dem sie nach
dem Rechte gehört und daß sie oft ein
Gegenstand des Kampfes ist. Man nimmt der
Geschichte von ihrem Inhalte nicht viel, wenn
man sie bestimmt als die Lehre vom Kampf
um die Herrschaft. Es ist die schwache Seite
des St., daß die zur Innehabung der Herr-
schaft unbedingt geeigneten Personen nicht ohne
weiteres erkennbar sind. Zeiten reicher Phantasie
und naiven Glaubens hatten mythische Götter
zu diesem Zweck zur Verfügung, die den schwachen
Menschen bei Einsetzung der Herrscher halfen.
Aber der Polytheismus zeigte darin selbst seine
Schwäche, daß er auch die Götter in Kampf um
die Herrschaft verwickelte. Die Erkenntnis der
Notwendigkeit der Einheit des St. und seiner
Herrschaft, wohl die blutigste aller Erfahrungen
der Menschheit, bildete nachweislich eine der wich-
tigsten psychologischen Grundlagen des Mono-
theismus, eine Religionsform, welche denn auch
im Verlauf der Dinge in den Jahrtausenden dem