Staatsfinanzen (II. Staatsschulden)
477
1
Staate zugleich — soweit er nicht nach den Anleihe-
bedingungen für einen gewissen Zeitraum aus-
drücklich darauf verzichtet — die Möglichkeit ver-
bleibt, späterhin bei günstigeren Marktverhält-
nissen die Schuld zukonvertieren, d. h. zu kün-
digen und dafür neue Schulden zu niedrigerem
Zinsfuß auszugeben. Die wichtigsten Konvertie-
rungen der neueren Zeit waren diejenigen vom 4.
3. 85 und 23. 12. 96 in Preußen und v. 8. 3. 97
im Reich. Bei niedrig verzinslichen Anleihen hat
der Staat von vorneherein den Vorteil niedriger
Jahreszahlungen, doch büßt er an Kapital ein, da
er z. B. in Deutschland gegenwärtig (1913) bei 3%
Zinsen für 100 Mk. Nominalbetrag nur etwa 76
Mark Kapital erhalten würde. Theoretisch ist im
allgemeinen für den Staat wohl die erstere
Form die rentabelste. Nach den neuesten Erfah-
rungen wirken aber Konvertierungen oft nach-
teilig auf die Beliebtheit der Staatspapiere. Der
niedrigere Zinsfuß ist namentlich bei der Spe-
kulation beliebter, was sich in einem in der
Regel verhältnismäßig höheren Kurs-
stand dieser Papiere auszudrücken pflegt. Der
Gläubiger ist gesicherter gegen Konvertierungen,
braucht weniger Kapital zu zahlen und hat die
Chancen einer Steigerung des Kurswertes bei
Anziehen des Landeszinsfußes.
Die näheren Bestimmungen der Verzinsung,
insbesondere die Höhe des Zinsfußes, die Termine
der Zinszahlung (üblicherweise halbjährlich) wer-
den in den Anleihebedingungen festgesetzt. Um
den Gläubigern die Zinserhebung, dem Schuldner
die Zahlung zu erleichtern, werden den Schuld-
titres Zinsscheine (Kupons) für eine Reihe von
Jahren (meist 10 Jahre) und Talons (Zinsleisten)
beigefügt.
Die Bestimmungen über Konvertierung, Rück-
zahlung und Umwandlung von verzinslichen
Staatsschulden sind nach a 98 des EG zum BG#
der Landesgesetzgebung überlassen.
Zins und Tilgungsbeträge werden in der Regel
besonders behandelt. Wenn beide in einer Summe
als jährliche Rente gezahlt werden, so spricht man
von Annuitäten oder Zeitrenten, welche
aber in Deutschland wenig üblich sind (mehr in
England und Frankreich).
6#5. Tilgung. Die Tatsache, daß sich die alten
Schuldentilgungsfonds im In= und Ausland nicht
bewährt hatten, führte, namentlich mit Einfüh-
rung der sog. Rentenschulden im Laufe des 19.
Jahrhunderts in Deutschland vielfach zum Prinzip
der sog. freien Tilgung. Als dieses
Prinzip aber zumeist zur Verminderung des
Tilgens überhaupt führte, hat man sich in neuerer
Zeit wieder entschlossen, wenn auch nicht immer
vertragsmäßig, also den Gläubigern gegenüber, so
doch gesetzlich, dem Lande gegenüber, eine Til-
gungspflicht einzuführen.
I. Vorbildlich wirkte in Deutschland namentlich
Preußen. Hier war durch das KonsolG v.
19. 12. 69 die Form der unkündbaren Rente
(Konsols) eingeführt worden, welche allmählich
alle anderen Formen der (tilgbaren) Schuldver-
schreibungen verdrängt und das freie Tilgungs-
system immer mehr durchgeführt hatte (nach § 2
jenes Gesetzes sollte eine Tilgung nur erfolgen,
wenn und soweit etatsmäßige Ueberschüsse der
Staatseinnahmen über die Staatsausgaben sich
ergeben und soweit über dieselben im Staatshaus-
halt nicht anderweit verfügt wird). Mit dem
Jahre 1900 waren die letzten der alten tilgbaren
St. Scheine zurückgezahlt, so daß ein Tilgungs-
zwang nur noch für 29% der St. (ein paar alte
übernommene Eisenbahnanleihen) bestand. Das
Eisenbahngarantiegesetz vom Jahre 1882, das eine
ausreichende Tilgung der infolge der Verstaat-
lichungsaktion aufgenommenen hohen Eisenbahn-
schuld sichern wollte, hatte diesen Zweck nicht er-
reicht, da es den Staat nur zu einer buchmäßigen
Abschreibung, nicht zu einer wirklichen Tilgung
zwingt. Um daher in Zukunft eine jährliche Ent-
nahme von laufenden Mitteln zu Schuldentil-
gungszwecken zu sichern, wurde unterm 8. 3. 97
(Miquel) ein Gesetz erlassen, wonach in jedem
Jahre mindestens 3/3% der sich jeweils nach
dem Staatshaushaltsetat erge-
benden Staatskapitalschuld (also keine Til-
gung mit Zinseszinsen) zu tilgen seien. Außerdem
aber müssen (§ 3 Ges.) alle sich nach den Jahresrech=
nungen ergebenden Ueberschüsse des Etats kraft
Gesetzes zur Tilgung verwendet werden. Um die
Mängel, welche eine Verpflichtung des Staats zum
Ankauf von Schuldtitres an der Börse hat, zu ver-
meiden, wurde eine Verrechnung auf schon
bewilligte, aber noch nicht begebene Staatsanleihen
der Schuldentilgung gleichgestellt, da sie wirt-
schaftlich den gleichen Effekt wie ein Ankauf schon
begebener Schuldentitres hat. Die Tilgung
aus Rechnungsüberschüssen ist neuerdings durch
das G betr. die Bildung eines rechnungsmäßigen
Ausgleichsfonds für die Eisenbahnverwaltung v.
3. 5. 03, [J Eisenbahnen Band 1 S. 657)] sowie
durch die 1910 zwischen Landtag und Regierung
vereinbarte Bildung eines etats mäßigen Eisen-
bahnausgleichsfonds wieder erheblich eingeschränkt
und tatsächlich fast illusorisch geworden.
II. Dem Vorgange Preußens ist neuerdings das
Reich gefolgt, welches die Tilgungsbestimmun-
gen sogar noch erheblich schärfer gestaltet hat.
Allerdings war hier lange Versäumtes nach-
zuholen und zu berücksichtigen, daß der größte
Teil der Reichsschuld nicht wie in Preußen zu
Rente liefernden Erwerbsanstalten, sondern haupt-
sächlich zu Heeres-- und Marinekosten Verwendung
findet. Das Finanzreform G v. 15. 7. 09 be-
stimmte, daß die bisherigen Anleihen vom I. 4. 11
ab mit 10%½% (unter Zurechnung der ersparten Zin-
sen), die neu aufzunehmenden Anleihen mit 1,90%,
und, wenn sie nicht für werbende Zwecke aufsge-
nommen werden, gar mit 3½% getilgt werden sollen.
III. Bayern ist derjenige der größeren Bun-
desstaaten, der wohl verhältnismäßig am wenig-
sten Schulden tilgt. Ursprünglich hatte auch dieser
Staat einen Tilgungsfonds (V v. 20. 8. 1811
Reg Bl 1063). Durch Gv. 28. 12. 31 wurde für die
allgemeine Schuld eine Prozentualtilgung von
79% durchgeführt. Mit der fortschreitenden Eisen-
bahnverstaatlichung wurde auch für die Eisenbahn-
schulden eine 29 ige Zwangstilgung vorgeschrie-
ben und mit deren Durchführung eine besondere
Eisenbahndotationskasse betraut, G v. 25. 8. 43
und 23. 5. 46. Daneben bestand auch für die sog.
Grundrenten= und Landeskulturrentenschuld eine
Zwangspflicht zur Tilgung. Für letztere beiden
Schuldarten besteht sie auch heute noch fort.
Dagegen war für den bei weitem größten Teil der
bayerischen St., die Eisenbahnschuld, der Til-
gungszwang mit dem Jahre 1879 weggefallen