Staatskirchliche Gerichtsbarkeit
495
Libertez de Peglise Gallicane in eine einheitliche,
sehr bald mit offiziellem Ansehen bekleidete Kodi-
fikation zusammengefaßt hatte. Diese „Frei-
heiten“ sollten eine Schutzwehr des Staates
gegen kirchliche Uebergriffe aufrichten. In erster
Linie enthielten sie aber positive Normen für zahl-
reiche rein kirchliche Verhältnisse, sie
markierten die Grenze zwischen den Herrschafts-
rechten der römischen Kirche (ocolesia Ro-
mana) und den Gehorsamspllichten des französi-
schen Klerus (eccolesia Gallicana). Jede
Verletzung einer solchen „Freiheit“ begründete
ein Einschreiten des Staates.
Nach a 79 der Libertez griff der Appel comme d abus
überall Platz: quand #I°y a entreprise de jurisdiction ou
attentat contre les salncts decrets et cannos receuz en
ce ryaume, drolets, franchises, libertez et privlleges de
1·’Eglise gallicane, concordats, edits et ordonnances du
#oyF, arrests de son parlement: bref contre ce qui est non
— seulement de droict commun, divin ou naturel, mais
aussi des prerogatives de ce royaume et de 1Eglise d’lceluy.
Demgemäß wurde schon in alter Zeit als abus erklärt:
die Behauptung, daß dem Papst eine Superiorität über den
König von Frankreich gebühre, die Belegung von Teilen
des französischen Staatsgebietes mit dem Interdikt, die
Exkommunikation von Staatsbeamten wegen Vornahme
einer Amtshandlung, die Ausübung von päpstlichen Legaten-
rechten ohne königliche Erlaubnis, die Publikation von päpst-
lichen Erlassen ohne vorher eingeholte Genehmigung des
Parlaments, die Berhängung von Kirchenstrasen oder
Zensuren über französische Untertanen ohne zureichenden
Grund, die Verkümmerung des Sakramentsgenusses, so-
fern nicht ein erimen apertisslmum vorlag, die Nichtein-
haltung der staatlichen oder kirchlichen Vorschriften über die
Errichtung, Beränderung und Besetzung von Kirchenämtern
u. dgl. Der Appell ging an das Parlament, d. h. an
dasjenige Landesgericht, in dessen Sprengel der Mißbrauch
vorgekommen war. Die Entscheidung lautete entweder auf
Zurückweisung der Beschwerde: gu·'tl! n’y a pas
d’abus, oder sie erklärte einen abus für vorhanden:
qutl a é4té mal et abusl vement jugé,
oder sie schlug einen Mittelweg ein und verwies die Sache
an die nächste höhere geistliche Behörde (Umwandlung des
appel Cualifié in einen appel s#mple). Wurde ein
abus konstatiert, so trat Kassation der für mißbräuch-
lich erklärten Handlung ein, auch konnte zugleich auf Strase
gegen den mallacteur erkannt werden. Gegen die Entschei-
dung des Parlaments stand eine weitere Berufung (recours)
an den Staatsrat (consell du Roy) offen.
In dieser Weise galt das Institut bis Ende des
18. Jahrhunderts.
2. Auch im alten Deutschen Reich
war seit dem 16. Jahrhundert die Statthaftigkeit
eines Rekurses wegen Mißbrauchs der geistlichen
Amtsgewalt an den Kaiser oder an eins der
beiden höchsten Reichsgerichte (Reichs-
kammergericht und Reichshofrat) grundsätzlich an-
erkannt. Eine nähere Festsetzung der
Fälle, in welchen ein solcher Rekurs als begründet
zu erachten, ist zwar durch die Reichsgesetzgebung
niemals erfolgt. Die Praxis zeigt indes, daß
jede Einmischung der geistlichen Gerichte in welt-
liche Angelegenheiten, namentlich in die Kompe-
tenz der staatlichen Gerichtshöfe, ferner die un-
rechtmäßige Verhängung von Kirchenstrafen, so-
wie jede Verletzung der durch die deutschen Kon-
kordate gewährleisteten kirchlichen Einrichtungen
das Rechtsmittel zur Hand gab. Als Strafen
für einen konstatierten Mißbrauch der geistlichen
Amtsgewalt wurden Geldbußen, Temporalien-
lure, Absetzungen, auch Gefängnisstrafen ver-
ängt.
II. Seit dem Ausgange des 18. Jahr-
hunderts haben sich die Sach= und Rechtsver-
hältnisse mehrfach geändert.
1. In Frankreich wurde der Appel comme
chabus durch die Napoleonische Geset-
gebung neu geregelt. Nach den Organischen Ar-
tikeln vom 18 Germinal XK a 6—8 findet der Appel
statt: dans tous les cas Tabus de la part des
supérieurs et autres personnes ecclésiastiques,
und zwar gleichviel, ob es sich um katholische, pro-
testantische oder jüdische Religionsdiener handelt
(Articles organiques des cultes protestants vom
18 Germinal X a 6. V v. 25. 5. 44 a 55).
Als cas d’abus gelten Tusurpation ou l’exces de
pouvoir, la contravention aux lois et reglements de la
république, l’infraction des regies consacrées par les
canons reçus en France, Hattentat aux Übertés, franchlses.
et coutumes de 1 Eglise gallicane et toute entreprise du.
tout procédé dul dans l’exerchce du culte peut compro-
mettre I’honneur des ditoyens, troubler arbitralrement
leur conscience, dégénérer contre eux en oppression ou en-
injure ou en scandale public. Die Praxis rechnete dahin.
die Verhängung von kirchlichen Disziplinarstrasen, sofern
bei dem Verfahren eine wesentliche Formverletzung statt-
gesunden hat, die Berkündigung von päpstlichen Erlassen
ohne vorgängige Einholung des staatlichen Plazet, die Mit-
wirkung des Geistlichen bei einer Eheschließung, bevor die
bürgerliche Eingehungsform beobachtet worden, die Verwei-
gerung der Sakramente unter Umständen, welche eine Be-
leidigung der davon betroffenen Person enthalten oder sonst.
öffentliches Aergernis erregen. Das Rechtsmittel stand dem
Berletzten zu, konnte aber auch von Amts wegen
durch den Präfekten eingelegt werden. Seine Entscheidung
ersolgte durch den Staatsrat (consell d’ Etat). Wurbe
der Appell nicht abgewiesen, so beschränkte sich das Urteil
auf die Erklärung, daß ein Mißbrauch stattge funden habe:
aqau'il ya d’abus. Auch konnte eine Unterdrückung
des mißbräuchlichen Schriftstückes und Berweisung der
Sache an das zuständige Straf= oder Zivilgericht verfügt
werden. Dagegen war das früher von den Parlamenten
geübte Recht, über den betr. Geistlichen Strafen zu
verhängen, fortgesallen. 1
Alle diese Vorschriften sind durch das fran-
zösische Trennungsgesetz (Loi de séparation de
Téglise et de Pétat) v. 9. 12. 05 beseitigt worden.
a 44: Sont et demeurent abrogées toutes les.
dispositions relatives à Porganisation publique.
des cultes . . et notamment la loi du 18 Ger-
minal an X. Damit ist das Institut des Appel
comme chabus seinem ganzen Umfange nach für
Frankreich (nicht auch für Elsaß-Lothrin-
gen) in Weg fall getreten.
2. In Deutschland hatte nach Auflösung des
alten Reichs die Partikulargesetzgebung
den Recursus ab abusu zunächst nicht weiter entwik-
kelt, sondern sich darauf beschränkt, in allgemei-
nen Umrissen seine fortdauernde Geltung
anzuerkennen. Es geschah das namentlich von
den Staaten der oberrheinischen Kirchenprovinz,
welche in dem gemeinsamen Ed. v. 30. 1. 1830.
#s# 36 „den Geistlichen, sowie den Weltlichen, wo
immer ein Mißbrauch der geistlichen Gewalt gegen
sie stattfindet“, einen Rekurs an die Landesbehör-
den vorbehielten.
Erst später, insbesondere seit den durch das.
Vatikanische Konzil veranlaßten kirchenpolitischen