Full text: Wörterbuch des Deutschen Staats- und Verwaltungsrechts. Dritter Band. O bis Z. (3)

  
Staatskirchliche Gerichtsbarkeit 
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Libertez de Peglise Gallicane in eine einheitliche, 
sehr bald mit offiziellem Ansehen bekleidete Kodi- 
fikation zusammengefaßt hatte. Diese „Frei- 
heiten“ sollten eine Schutzwehr des Staates 
gegen kirchliche Uebergriffe aufrichten. In erster 
Linie enthielten sie aber positive Normen für zahl- 
reiche rein kirchliche Verhältnisse, sie 
markierten die Grenze zwischen den Herrschafts- 
rechten der römischen Kirche (ocolesia Ro- 
mana) und den Gehorsamspllichten des französi- 
schen Klerus (eccolesia Gallicana). Jede 
Verletzung einer solchen „Freiheit“ begründete 
ein Einschreiten des Staates. 
Nach a 79 der Libertez griff der Appel comme d abus 
überall Platz: quand #I°y a entreprise de jurisdiction ou 
attentat contre les salncts decrets et cannos receuz en 
ce ryaume, drolets, franchises, libertez et privlleges de 
1·’Eglise gallicane, concordats, edits et ordonnances du 
#oyF, arrests de son parlement: bref contre ce qui est non 
— seulement de droict commun, divin ou naturel, mais 
aussi des prerogatives de ce royaume et de 1Eglise d’lceluy. 
Demgemäß wurde schon in alter Zeit als abus erklärt: 
die Behauptung, daß dem Papst eine Superiorität über den 
König von Frankreich gebühre, die Belegung von Teilen 
des französischen Staatsgebietes mit dem Interdikt, die 
Exkommunikation von Staatsbeamten wegen Vornahme 
einer Amtshandlung, die Ausübung von päpstlichen Legaten- 
rechten ohne königliche Erlaubnis, die Publikation von päpst- 
lichen Erlassen ohne vorher eingeholte Genehmigung des 
Parlaments, die Berhängung von Kirchenstrasen oder 
Zensuren über französische Untertanen ohne zureichenden 
Grund, die Verkümmerung des Sakramentsgenusses, so- 
fern nicht ein erimen apertisslmum vorlag, die Nichtein- 
haltung der staatlichen oder kirchlichen Vorschriften über die 
Errichtung, Beränderung und Besetzung von Kirchenämtern 
u. dgl. Der Appell ging an das Parlament, d. h. an 
dasjenige Landesgericht, in dessen Sprengel der Mißbrauch 
vorgekommen war. Die Entscheidung lautete entweder auf 
Zurückweisung der Beschwerde: gu·'tl! n’y a pas 
d’abus, oder sie erklärte einen abus für vorhanden: 
qutl a é4té mal et abusl vement jugé, 
oder sie schlug einen Mittelweg ein und verwies die Sache 
an die nächste höhere geistliche Behörde (Umwandlung des 
appel Cualifié in einen appel s#mple). Wurde ein 
abus konstatiert, so trat Kassation der für mißbräuch- 
lich erklärten Handlung ein, auch konnte zugleich auf Strase 
gegen den mallacteur erkannt werden. Gegen die Entschei- 
dung des Parlaments stand eine weitere Berufung (recours) 
an den Staatsrat (consell du Roy) offen. 
In dieser Weise galt das Institut bis Ende des 
18. Jahrhunderts. 
2. Auch im alten Deutschen Reich 
war seit dem 16. Jahrhundert die Statthaftigkeit 
eines Rekurses wegen Mißbrauchs der geistlichen 
Amtsgewalt an den Kaiser oder an eins der 
beiden höchsten Reichsgerichte (Reichs- 
kammergericht und Reichshofrat) grundsätzlich an- 
erkannt. Eine nähere Festsetzung der 
Fälle, in welchen ein solcher Rekurs als begründet 
zu erachten, ist zwar durch die Reichsgesetzgebung 
niemals erfolgt. Die Praxis zeigt indes, daß 
jede Einmischung der geistlichen Gerichte in welt- 
liche Angelegenheiten, namentlich in die Kompe- 
tenz der staatlichen Gerichtshöfe, ferner die un- 
rechtmäßige Verhängung von Kirchenstrafen, so- 
wie jede Verletzung der durch die deutschen Kon- 
kordate gewährleisteten kirchlichen Einrichtungen 
das Rechtsmittel zur Hand gab. Als Strafen 
für einen konstatierten Mißbrauch der geistlichen 
  
Amtsgewalt wurden Geldbußen, Temporalien- 
lure, Absetzungen, auch Gefängnisstrafen ver- 
ängt. 
II. Seit dem Ausgange des 18. Jahr- 
hunderts haben sich die Sach= und Rechtsver- 
hältnisse mehrfach geändert. 
1. In Frankreich wurde der Appel comme 
chabus durch die Napoleonische Geset- 
gebung neu geregelt. Nach den Organischen Ar- 
tikeln vom 18 Germinal XK a 6—8 findet der Appel 
statt: dans tous les cas Tabus de la part des 
supérieurs et autres personnes ecclésiastiques, 
und zwar gleichviel, ob es sich um katholische, pro- 
testantische oder jüdische Religionsdiener handelt 
(Articles organiques des cultes protestants vom 
18 Germinal X a 6. V v. 25. 5. 44 a 55). 
Als cas d’abus gelten Tusurpation ou l’exces de 
pouvoir, la contravention aux lois et reglements de la 
république, l’infraction des regies consacrées par les 
canons reçus en France, Hattentat aux Übertés, franchlses. 
et coutumes de 1 Eglise gallicane et toute entreprise du. 
tout procédé dul dans l’exerchce du culte peut compro- 
mettre I’honneur des ditoyens, troubler arbitralrement 
leur conscience, dégénérer contre eux en oppression ou en- 
injure ou en scandale public. Die Praxis rechnete dahin. 
die Verhängung von kirchlichen Disziplinarstrasen, sofern 
bei dem Verfahren eine wesentliche Formverletzung statt- 
gesunden hat, die Berkündigung von päpstlichen Erlassen 
ohne vorgängige Einholung des staatlichen Plazet, die Mit- 
wirkung des Geistlichen bei einer Eheschließung, bevor die 
bürgerliche Eingehungsform beobachtet worden, die Verwei- 
gerung der Sakramente unter Umständen, welche eine Be- 
leidigung der davon betroffenen Person enthalten oder sonst. 
öffentliches Aergernis erregen. Das Rechtsmittel stand dem 
Berletzten zu, konnte aber auch von Amts wegen 
durch den Präfekten eingelegt werden. Seine Entscheidung 
ersolgte durch den Staatsrat (consell d’ Etat). Wurbe 
der Appell nicht abgewiesen, so beschränkte sich das Urteil 
auf die Erklärung, daß ein Mißbrauch stattge funden habe: 
aqau'il ya d’abus. Auch konnte eine Unterdrückung 
des mißbräuchlichen Schriftstückes und Berweisung der 
Sache an das zuständige Straf= oder Zivilgericht verfügt 
werden. Dagegen war das früher von den Parlamenten 
geübte Recht, über den betr. Geistlichen Strafen zu 
verhängen, fortgesallen. 1 
Alle diese Vorschriften sind durch das fran- 
zösische Trennungsgesetz (Loi de séparation de 
Téglise et de Pétat) v. 9. 12. 05 beseitigt worden. 
a 44: Sont et demeurent abrogées toutes les. 
dispositions relatives à Porganisation publique. 
des cultes . . et notamment la loi du 18 Ger- 
minal an X. Damit ist das Institut des Appel 
comme chabus seinem ganzen Umfange nach für 
Frankreich (nicht auch für Elsaß-Lothrin- 
gen) in Weg fall getreten. 
2. In Deutschland hatte nach Auflösung des 
alten Reichs die Partikulargesetzgebung 
den Recursus ab abusu zunächst nicht weiter entwik- 
kelt, sondern sich darauf beschränkt, in allgemei- 
nen Umrissen seine fortdauernde Geltung 
anzuerkennen. Es geschah das namentlich von 
den Staaten der oberrheinischen Kirchenprovinz, 
welche in dem gemeinsamen Ed. v. 30. 1. 1830. 
#s# 36 „den Geistlichen, sowie den Weltlichen, wo 
immer ein Mißbrauch der geistlichen Gewalt gegen 
sie stattfindet“, einen Rekurs an die Landesbehör- 
den vorbehielten. 
Erst später, insbesondere seit den durch das. 
Vatikanische Konzil veranlaßten kirchenpolitischen
	        
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